Die Ukraine – Im Schatten von Tschernobyl
Vor zwei Jahrzehnten geschah in Tschernobyl der schlimmste Atomunfall der Geschichte. Noch heute leiden die Menschen in der Ukraine unter den Folgen.
swissinfo besuchte Sukachi, ein Dorf südlich der 30km-Sperrzone rund um das Kernkraftwerk. Dorthin wurden nach der Katastrophe 700 Personen umgesiedelt.
Die Menschen von Sukachi gehören zu den 350’400 Personen, die gezwungen waren, das verstrahlte Gebiet um Tschernobyl zu verlassen. Die Umsiedlung war ein äusserst traumatisches Erlebnis.
Die Kosten der Sozialhilfe für die Überlebenden belasten die Ukraine und deren Nachbarstaaten Russland und Weissrussland schwer. Insgesamt sieben Millionen Menschen benötigen staatliche Unterstützung.
Geberländer wie die Schweiz leisten nach wie vor Beiträge an humanitäre Projekte im Gebiet um Tschernobyl.
Sukachi
Sukachi liegt eine gute Fahrstunde von der modernen ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt. Bei der Einfahrt ins Dorf fühlt man sich in eine frühere Zeit versetzt.
Gänse ruhen sich in der Sonne neben einer antiken Wasserpumpe aus, ältere Frauen in farbenfrohen traditionellen Gewändern kaufen herrlich riechendes Brot aus einer grün gestrichenen Holzkabine.
Das Bürgermeisteramt hat eine spektakuläre Aussicht auf ein Naturreservat, in dem Enten auf spiegelglatten Seen landen und sich Schilfrohr im Wind wiegt. Vor dem Bau des Kernkraftwerks war dies ein beliebtes Feriengebiet.
Eine der Strassen ist unheimlich ruhig. Einige der 180 Häuser, die 1986 für die Evakuierten gebaut worden waren, stehen leer. Tschernobyl fordert noch heute seine Opfer.
Evakuierung
Viele Leute von Sukachi, vor allem die älteren, konnten sich mit der Umsiedlung nie abfinden. Die Rentnerin Valentina Kuranda erzählt swissinfo, dass sie erst zehn Tage nach der Katastrophe angewiesen wurde, ihr stark verstrahltes Dorf zu verlassen. «Wir wurden in Busse verpackt, alle weinten.»
Und ihre Nachbarin Hanna Matkivskaya fügt bei: «Sie verfrachteten uns wie Vieh. Niemand fragte uns, wohin wir wollten. Wir wurden hierher gebracht, weil das Dorf unterbevölkert war.» Hier gefalle es ihr nicht. «Die Erde ist hart und unfruchtbar. Nicht einmal Kartoffeln kann man anpflanzen», sagt sie weiter.
Ivan Bondor renoviert gerade sein Haus. «Diese Häuser wurden in drei Monaten hingestellt. Sie wurden schlecht gebaut, und jetzt sind sie am Einfallen», erzählt er.
Valentina Kuranda zeigt einen Fleck vom Regen an der Decke ihres Hauses. Auch glaubt sie, dass ihr Wasser verseucht ist.
«Wenn man es kocht, gibt es am Boden des Kessels eine rote Ablagerung.» Sie ist überzeugt, dass die Verstrahlung für ihren schlechten Gesundheitszustand verantwortlich ist.
Leere Häuser
Hanna Bondor weint, als sie erzählt, dass ein halbes Dutzend Menschen aus ihrem Dorf, die hierher umgesiedelt worden waren, inzwischen gestorben sind. «Man muss nur unsere Strasse ansehen. Sechs Häuser stehen leer. Die Menschen, die hier wohnten, Junge wie Alte, sind gestorben.»
Laut den Evakuierten waren die Einwohner von Sukachi immer sehr freundlich, trotzdem fühlen sie sich noch immer isoliert und haben Heimweh. Ihr Gefühlstrauma und die Gesundheitsprobleme scheinen sich durch Armut und schlechte öffentliche Dienstleistungen noch verstärkt zu haben.
Zwar ist das Bezirksspital per Bus erreichbar, dieser fährt aber nur sporadisch, und nur wenige haben ein Auto. Bis vor kurzem gab es im Erste-Hilfe-Posten nicht einmal eine Grundausrüstung.
Erholung
2002 startete das Entwicklungs-Programm der UNO (UNDP) ein Projekt, das den Dorfbewohnerinnen und -bewohnern, die von der Katastrophe in Tschernobyl betroffen waren, helfen sollte, ihre Probleme selber zu lösen.
Das Projekt nennt sich Chernobyl Recovery and Development Programme (CRDP – Verbesserungs- und Entwicklungsprogramm für Tschernobyl).
Besonders wichtig für die Menschen in Sukachi war es, ihre Einrichtung für Erste Hilfe zu verbessern und ein Gemeinschaftszentrum zu schaffen, das zum Mittelpunkt für das Dorf werden sollte. Sie mussten Vorschläge machen, Bauprojekte und Finanzen organisieren.
Gemeindepräsident Petro Ivonovich Konovalenko zeigt stolz den Jugendklub von Sukachi mit seinem Theater, der neuen Fitness- und Turnhalle sowie der lebhaften Ecke, in der Kinder sich mit Computerspielen beschäftigen und im Internet surfen.
Zur Bewältigung der Zukunft
Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) stellte Computer und Internetanschluss sowie Sportgeräte für die Turnhalle zur Verfügung. Ausserdem kaufte die DEZA für sieben weitere CRDP-Dörfer audiovisuelle Einrichtungen und Sportausrüstungen.
«Das Wichtigste ist, dass das Projekt die Menschen zusammen bringt», erklärt Konovalenko. «Die Menschen im Dorf müssen zusammenarbeiten, um Lösungen für ihre Probleme zu finden.»
«Dank dem neuen Gemeinschaftszentrum erwerben unsere Kinder neue Fähigkeiten, die ihnen helfen werden, die Zukunft zu bewältigen», fährt er fort. «Wir haben sogar unsere eigenen Computergurus.»
swissinfo, Julie Hunt, Sukachi, Ukraine
(Übertragung aus dem Englischen: Charlotte Egger)
Bei der Explosion und dem Brand im Kernkraftwerk von Tschernobyl wurde Radioaktivität freigesetzt, die 30 bis 40 Mal höher war als jene der Atombomben auf Japan.
Die Menschen, die in der Nähe des Kraftwerks wohnten, wurden evakuiert und können nie mehr zurückkehren.
swissinfo reiste in die Ukraine, um herauszufinden, was aus ihnen geworden ist.
Die Schweiz leistete einen Beitrag von 453’000 Franken an das Chernobyl Recovery and Development Programme (CRDP).
Das CDRP unterstützt Gemeindeprojekte in rund 60 Dörfern der drei Regionen, die von der Katastrophe am stärksten betroffen waren.
Die DEZA schickte Medikamente und medizinische Ausrüstung für 17 lokale Erste-Hilfe-Stellen und bildet medizinisches Personal aus.
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