Die vergessenen Geiseln in der Sahara
Während die Erdbeben Algerien in die Schlagzeilen brachten, bleiben die Schweizer Medien in Bezug auf das Schicksal der in der Sahara vermissten Geiseln zurückhaltend.
Das Schweigen kommt wohl daher, dass zuverlässige Informationen über eine schwierige und komplizierte Affäre fehlen.
14. Mai 2003. Weniger als vierzehn Stunden nach der Abreise des deutschen Aussenministers Joschka Fischer aus Algiers sind 17 der 32 Geiseln in der Sahara auf freiem Fuss.
Seither fehlt trotz mehrerer Ankündigungen eines «bevorstehenden Angriffs» gegen die Gruppe, die noch immer zehn Deutsche, einen Niederländer und vier Schweizer Reisende festhält, nach wie vor jede Spur der zwischen Mitte Februar und Mitte März irgendwo in der unendlichen Wüste im Süden Algeriens Entführten.
Informationssperre
Anders als bei anderen Geiselnahmen sind in dieser Angelegenheit die Medien relativ zurückhaltend. Gibt es vielleicht nichts zu berichten?
«Es besteht eine Informationssperre, wie sie bei Geiselnahmen meist üblich ist», erklärt der Chefredaktor der Tageszeitung Le Temps, Jean-Jacques Roth.
«Es ist eine doppelte Sperre, sie besteht sowohl in Bern wie in Algiers. Und in dieser Beziehung gibt es nichts Schlimmeres als Algerien.»
Dabei hat Le Temps einen Korrespondenten vor Ort, doch dieser konnte nie die «harten Fakten» liefern, die es ermöglicht hätten, der Sache glaubhaft und zuverlässig nachzugehen.
Mit dem Resultat, dass es ein paar kleine Artikel gab, viele Fragen aber nach wie vor offen sind: Wo sind die Geiseln und wer hält sie wirklich fest?
Vor allem Schweizer Staatsangehörige
Aber Roth verbirgt auch nicht, dass die Affäre in der Romandie nicht unbedingt Priorität hat, da es sich um Reisende aus der Deutschschweiz handelt,. «Da kommt eine Art sprachlicher Nationalismus ins Spiel», räumt der Chef von Le Temps ein.
Dies wird von Peter Rothenbühler, seinem Amtskollegen bei Le Matin, vehement bestritten. Seiner Ansicht nach «spielt es absolut keine Rolle», dass die Geiseln aus der Deutschschweiz kommen.
Le Matin ist laut seinem Chefredaktor wahrscheinlich jene Westschweizer Zeitung, die am häufigsten über die Angelegenheit berichtete. Auch sie hat Mitarbeiter in Algerien.
Trotzdem hätte man zum Beispiel erwarten können, dass viel gelesene Zeitungen eine Art Kampagne führten wie jene des französischen Fernsehens bei der Geiselaffäre im Libanon.
«Ein täglicher Countdown ihrer Tage in Gefangenschaft? Daran dachten wir noch nie, aber das wäre eine gute Idee», gibt der Chefredaktor des Blick, Werner De Schepper, zu.
Die Angst der Familien
Das Deutschschweizer Boulevardblatt hat sich zwar mit den Familien der Geiseln getroffen, aber diese Quelle versiegte schnell. «Sie fürchten um die Sicherheit ihrer Angehörigen», erklärt De Schepper.
Im Aussenministerium wird bestätigt, dass man den Familien Anordnungen gab. «Wir haben ihnen gesagt, dass die Informationen, die wir ihnen geben können, nicht für die Presse gedacht sind», erklärt Daniela Stoffel.
Heisst das, die Familien wissen Dinge, welche die Öffentlichkeit nicht weiss?
«Dazu kann ich Ihnen nichts sagen», blockt die Sprecherin des Ministeriums ab. «Der Krisenstab kommt fast täglich zusammen, und wir stehen in regelmässigem Kontakt mit den Familien.» Punkt.
Diskretion oder Verlegenheit
«Wir haben den Medien keine Anordnungen gegeben, wir beharren aber darauf, dass die Sicherheit unserer vier Staatsangehörigen Priorität hat», so Stoffel weiter.
Werner De Schepper bestätigt, dass aus dem Aussenministerium kein Druck kommt. «Ich finde, was von ihnen kam, war eher Desinformation als Information, aber ich glaube nicht, dass das Absicht war», kommentiert der Blick-Chefredaktor.
Diese Diskretion, fast könnte man sage, die Verlegenheit, die im Aussenministerium zu spüren ist, erstaunt Jacques Beaud nicht.
«Verhandlungen über Geiselnahmen sind immer langsam und sehr heikel. Es ist besser, Zeit zu verlieren, als einen Fauxpas zu riskieren. Und es ist auch besser, wenn einem niemand in den Rücken fällt», erklärt der Schweizer Fachmann aus der Welt der Nachrichtendienste.
«Aber es stimmt schon», so Beaud, «dass man nicht genau weiss, wer die Geiselnehmer sind. Und niemand kann bestätigten, dass die Entführer auch die Drahtzieher sind.»
Die offizielle These
Offiziell jedenfalls ist die Sache klar. Die 17 am 14. Mai befreiten Geiseln wurden aus der Gewalt der islamistischen Gruppe der Salafisten befreit, die laut der algerischen Regierung Verbindungen zur Al-Kaida hat.
Aber viele Beobachter sowohl in Algerien wie in Europa sind da skeptisch.
Salima Mellah von der in Paris ansässigen Algeria Watch, die sich auf ihrer Website für die Einhaltung der Menschenrechte und die Förderung der Demokratie in Algerien einsetzt, weiss genug, um ihre Zweifel zu haben.
«Nach den ersten Freilassungen wurde am Fernsehen ein langes Interview mit zwei der deutschen Geiseln geführt», erinnert sich die Algerierin. «Einige Tage später wurden die Interviewten von einem hochrangigen Offizier der deutschen Kriminalpolizei dafür heftig gerügt.»
«Mauschelei»
Noch etwas anderes beunruhigt Salima Mellah: Kurz vor dem Erdbeben in Algerien hatte die deutsche Presse über Schwierigkeiten zwischen Algiers und Berlin berichtet.
«Man sprach nicht von Schwierigkeiten mit den Entführern, sondern zwischen den beiden Hauptstädten», stellt sie fest. «Deshalb denke ich, dass die algerische Regierung nicht wollte, dass die europäischen Regierungen direkt mit den Entführern verhandeln.»
Aus Angst, dass man entdeckt, wer diese wirklich sind? Mellah glaubt, dass es wirklich Islamisten sind, die aber sehr wahrscheinlich manipuliert werden.
«Wenn man die Europäer in ihre Nähe lässt, könnte die ganze Mauschelei auffliegen. Aber im Westen weiss man, dass es eine Mauschelei ist. Alle wissen das. Aber alle wollen das Gesicht wahren, daher ist man einverstanden, mit der algerischen Regierung zu verhandeln», präzisiert die Website-Verantwortliche von Algeria Watch.
Die Wahrheit liegt anderswo
Eine reine Hypothese? Salima Mellah legt sie als solche dar. Aber es gibt immer mehr Indizien, die sie stützen könnten.
In einigen Monaten kandidiert der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika erneut bei den Wahlen, mit Unterstützung eines Teils der Armee. Andere Gruppen in der Armee sind aber gegen ihn eingestellt, sie wollen dem Land beweisen, dass Bouteflikas Politik der nationalen Einheit ein Misserfolg ist.
Deshalb schreibt die französische Tageszeitung Libération denn auch unter Bezug auf diplomatische Quellen in Europa: «Diese (Geisel-)Affäre ist zu einem algerisch-algerischen Konflikt geworden, und die grossen Manöver im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen von 2004 haben die Sache zusätzlich verschärft.»
Die algerische «Bewegung der freien Offiziere» sagt es klarer. Auf ihrer Website erklären diese Regierungsgegner, dass die westlichen Reisenden «von Elementen der DRS (der algerischen Geheimpolizei) entführt worden seien und sich in einer Armeefestung im Süden befänden».
Und die Suchoperationen der Armee sind laut der Bewegung «nur eine unlautere Inszenierung, um den Medien Sand in die Augen zu streuen.»
Die Gefahr bleibt bestehen
Müssen die letzten Geiseln in der Sahara um ihr Leben fürchten, wer auch immer die Entführer sind? Die Antwort von Salima Mellah ist eindeutig: Ja.
Sie erinnert an den Tod der sieben Zisterziensermönche, die 1996 in Tiberhirine auf Befehl von Algiers entführt worden waren. Ein früherer algerischer Militär gestand später, dass diese Operation nur den Zweck hatte, «die internationale öffentliche Meinung zu vergiften, damit die internationale Unterstützung Algiers gegen die islamistische Barbarei nicht zurückging.»
Damals hatte die Intervention des französischen Geheimdienst zu einem Drama geführt. Ein Drama, das für Mellah ein Schlüssel ist, bei dem es einem kalt über den Rücken läuft: «Damit nichts davon bekannt wurde, hat man alle liquidiert.»
swissinfo, Marc-André Miserez
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)
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