Ein einfaches Leben auf der Alp Loveignoz
Seit 33 Jahren bewirtschaftet Lise Es-Borrat die Alp Loveignoz im Val d'Hérens im Kanton Wallis. Mit ihrem Team stellt sie auf 2151 Metern über Meer verschiedene Käsesorten her und verköstigt in der Alp-Buvette hungrige Wanderer.
Die ersten Sonnenstrahlen durchdringen langsam den Nebel über dem Gipfel des Aiguilles Rouges.
Auf der gegenüberliegenden Talseite ist Es-Borrat bereits auf den Beinen und bereitet das Mittagessen für die Gäste vor, die in ihrer «Alp-Beiz» halt machen könnten.
Ein sanftes Geläute ist zu hören, als Laurent, ihr junger Hirte aus Les Diablerets, mit einigen der 85 Kühe vorbeizieht, die von Mitte Juni bis Mitte September hier oben den Sommer verbringen.
«Es ist sehr idyllisch,» sagt sie lächelnd. «Das Leben in den Bergen ist aber auch äusserst hart. Da muss man realistisch sein.»
Es-Borrat ist eine von Tausenden von Personen, die jeden Sommer auf die hochalpinen Alpen ziehen, um Herden zu hüten und Käse herzustellen.
Tausende übersommern auf Schweizer Alpen
Alleine im Kanton Wallis zogen dieses Jahr 20’000 Kühe in die Berge, um das saftige Gras zu geniessen. Rund 30 Prozent des Bergbauern-Einkommens wird in den hochalpinen Weiden generiert, welche 30% der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Schweiz ausmachen.
Lise Es-Borrat, die als Tochter eines Viehhändlers in Blonay im Kanton Waadt aufgewachsen war, wollte ursprünglich Krankenschwester werden. Ihr wurde aber bald schon klar, dass sie für ein Leben mit Kühen in den Bergen bestimmt war.
Sie heiratete einen Walliser Landwirt und kam erstmals 1978 zusammen mit ihrem Mann, den Kindern und Kühen nach Loveignoz, dessen Zauber sie verfiel.
«Dieser Ort ist sehr symbolisch. Es ist der wichtigste Ort in meinem Leben. Hier kann ich meine Batterien durch die Natur aufladen – durch Sonnenauf- und untergänge, den Geruch von Bäumen, Blumen und Morgentau.»
Seit 33 Jahren kehrt sie jeden Sommer hierher zurück, entweder mit der Herde ihrer Familie oder, nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1990, um nach anderer Leute Vieh zu schauen.
2007 riet ihr ihr Arzt, kürzer zu treten. Seither macht sie selber keinen Käse mehr. Diese Aufgabe übernahm ihr Lebensgefährte Jean-Vincent, ein ehemaliger Lehrer.
«Das veränderte mein Leben»
Trotz harter Arbeit blieb ihre wirtschaftliche Lage «sehr schwierig» und es war klar, dass die Sömmerung von Vieh und die Käseproduktion das Überleben von Loveignoz langfristig nicht würden garantieren können.
Es war zu jener Zeit, als das Loveignoz-Alpage-Komitee, eine Gruppe, welche das Land besitzt, die Idee eines Alp-Cafés lancierte, um ihr Einkommen zu diversifizieren. Die Investitionen beliefen sich auf 250’000 Franken, 30’000 Franken stammten von der Schweizer Berghilfe.
«Als diese Idee vorgeschlagen wurde, war ich nicht gerade begeistert. Ich befürchtete, dass die Seele des Berges verändert würde», sagt Es-Borrat.
Überrascht vom Erfolg der ersten zwei Jahre ist die Chefin des Kleinbetriebs nun von der neuen Herausforderung überzeugt. Vier Angestellte helfen mit, die Tiere zu betreuen, den begehrten Käse herzustellen und die Berggäste mit Speis und Trank zu versorgen.
«Das hat mein Leben ganz klar verändert», sagt Es-Borrat.
Hausgemacht
In der Hütte ist ihre Kollegin Josephine, die in der «Buvette» mithilft, damit beschäftigt, Kartoffeln zu schälen. Heute steht Kartoffel-Käse-Gratin mit Salat auf dem Menuplan, gefolgt von hausgemachtem Zitronenkuchen, dazu Apfelsaft, Thymiantee oder ein Glas Walliser Rotwein.
«Ich mache einfache Dinge. Es ist hausgemacht – mit viel Herz», betont Es-Borrat. «Wenn niemand kommt, ist das nicht so schlimm. Ich habe noch anderes zu tun. Ich will einfach, dass dieser Ort über die Runde kommt, so dass die Angestellten bezahlt werden können.»
Heute werden rund 20 Gäste erwartet, darunter mehrere Stammgäste. Zahlen vorauszusagen, sei eine Lotterie, erklärt Josephine.
Aus der Milch der 85 Kühe, die hier oben gehalten werden, produziert Loveignoz zudem pro Jahr rund 5500 Kilogramm Raclette-Käse sowie Tomme. Der Grossteil wird vor Ort verkauft.
«Ich habe regelmässige Kunden, die seit 30 Jahren kommen, aber auch neue», erklärt Es-Borrat. «Es gibt auch immer mehr Bestellungen, einige Touristen kaufen nur ein kleines Stück, die meisten aber ganze Käse für ihre Familien und Freunde, zehn aufs Mal, die sie im September abholen.»
Überleben
Gemäss der Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete hat sich die wirtschaftliche Lage in den Schweizer Alpen verbessert. Zwischen 2005 und 2008 nahm die Zahl der dort Beschäftigten um 30’000 (1,9%) auf 560’000 zu. Davon sind 8% in der Landwirtschaft tätig.
Es-Borrat ist skeptisch: «Es gibt mehr Touristen, Leute, die sich an der Bergwelt erfreuen. Aber es ist viel schwieriger geworden, motivierte Leute zu finden, die auf den Alpen arbeiten wollen», sagt sie. «Nach drei Monaten hier oben müssen sie eine andere Arbeit finden.»
Und trotz des Erfolgs mit ihrem Käse und der «Alp-Beiz» bleibt nicht viel an Geld übrig. Den Rest des Jahres kommt sie dank ihrer Witwenrente, staatlichen Zuschüssen und einer sehr einfachen Lebensweise über die Runden – und bleibt optimistisch für die Zukunft.
«Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Für gewisse Leute ist es vielleicht nicht viel, aber ich habe ein Auto und jeden Tag Essen auf dem Tisch, und ab und zu gehen wir auswärts essen. Zudem kann ich Schweine- und Rindfleischvorräte für den Winter auf die Seite legen», betont die Bergbäuerin.
«Tiere, Natur, etwas zu essen und trinken – das ist alles, was ich brauche.»
Simon Bradley, Loveignoz, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
Die Schweizer Berghilfe, eine durch Spenden finanzierte Organisation, hat zum Ziel, die Existenzgrundlagen und Lebensbedingungen im Schweizer Berggebiet zu verbessern. Sie fördert die Selbsthilfe der Bergbevölkerung.
Im letzten Jahr unterstützte sie 556 Projekte mit 21,6 Mio. Franken.
Rund 60’000 Personen leben im hochalpinen Raum der Schweiz, darunter etwa 7500 Landwirte.
Trotz staatlichen Direktzahlungen und Subventionen können viele von ihnen nur überleben, indem sie einer zweiten Beschäftigung nachgehen.
Die Landwirtschaft in der Schweiz liegt im Europavergleich, was die Zahlen betrifft, im Durschschnitt.
5,4% der aktiven Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig. Sie steuern 1,2% zum Bruttoinlandprodukt bei.
Die Viehwirtschaft macht fast 3/4 der Produktion aus.
Die Schweizer Bauern produzieren rund 3/5 der im Inland konsumierten Nahrungsmittel.
1990 gab es noch 92’000 Bauernbetriebe, 2008 nur noch deren 61’800.
Im letzten Jahrzehnt ist das bäuerliche Einkommen um mindestens 10% zurückgegangen.
Die Schweizer Bauern erhalten jährlich insgesamt 2,5 Mrd. Franken an Direktzahlungen oder Subventionen.
Der Agrarsektor generierte 2009 schätzungsweise 2,9 Mrd. Franken Einnahmen.
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