G-20-Gipfel vor riesigen Herausforderungen
Die 20 stärksten Industrie- und Schwellenländer suchen am Gipfel in London Antworten auf die schlimmste Krise seit den 1930er-Jahren. Drei Experten beurteilen Erfolgschancen und mögliche Auswirkungen auf die Schweiz.
Vier Themenkomplexe sind es, für welche die Staatschefs der G-20 am Donnerstag an der Themse nach Lösungen suchen: Regulierung und Stabilisierung der Finanzmärkte, Reform der internationalen Finanzinstitute, Ankurbelung der schrumpfenden Weltwirtschaft sowie die Hilfe an die ärmsten Länder der Welt.
In London nicht dabei ist die Schweiz. Im Bundeshaus hatte man vergebens auf eine Einladung gehofft.
Das praktische Ziel eines solchen Gipfels bestehe in erster Linie darin, sich auf eine Schlussdeklaration zu einigen, sagt Cédric Dupont gegenüber swissinfo. «Die Frage ist, was die Regierungen danach mit dieser Erklärung anfangen. Der Gipfel könne nur Katalysator sein», relativiert der Professor am Institut für Höhere Internationale Studien und Entwicklung der Universität Genf.
«Es sind die Regierungen und internationalen Institutionen, welche die vereinbarten Ziele in die Tat umsetzen müssen», so Dupont.
Keine Wunder
Stéphane Garelli geht davon aus, dass der Gipfel Gelegenheit bietet, grosse Prinzipien zu bestätigen. «Etwa die Absage an den Protektionismus, dann die Schaffung von Transparenz und Regulierung betreffend globaler Finanz-Transaktionen oder die Ethik im modernen Kapitalismus», illustriert Garelli, der am Internationalen Institut für Management-Entwicklung der Uni Lausanne (IMD) lehrt.
«Oberste Priorität ist es, eine geschlossene Front gegen die Krise zu markieren. Dabei sind sich die Mitglieder der G-20 nicht einig in Bezug auf die zu ergreifenden Massnahmen», sagt Garelli.
Regulierung der Finanzmärkte
Während die USA billionen-schwere Konjunkturprogramme verabschieden, ist Europa damit vorsichtiger. Auf dem Kontinent gilt die Aufmerksamkeit vor allem der stärkeren Regulierung der Finanzmärkte.
Die Europäische Union könne hier vorangehen, ohne die Zustimmung der G-20 abwarten zu müssen, postuliert Cédric Tille, wie Dupont Professor für Ökonomie am Genfer Institut für Höhere Internationale Studien und Entwicklung. Dies gelte vor allem für die bisher uneinheitliche Bankenaufsicht in der Euro-Zone.
Kollege Cédric Dupont stellt hier eine Annäherung fest. «Die Regierungen sind sich über eine bessere Regulierung der Finanzmärkte einig, um übertriebene Risiken künftig zu verhindern.»
Die drei Spezialisten gründen ihre Einschätzungen auf einen Entwurf der Schlusserklärung, welche die Nachrichtenagentur Thomson Reuters vorab publik gemacht hatte.
Protektionismus als Gefahr
Was den Kampf gegen Protektionismus angeht, entdeckt Dupont bei der G-20 Lücken. «Die Massnahmen gegen unlauteren Schutz der eigenen Wirtschaft sind einerseits ziemlich vage. Die Probleme treten andererseits erst zutage, wenn es an die Umsetzung im Detail geht.» Entscheidend wird laut Dupont deshalb die Phase nach dem Gipfel sein.
Am letzten Zusammentreffen vom November in Washington hätten die Regierungschefs der G-20 versprochen, bis London eine Reihe von konkreten Massnahmen in Kraft zu setzen. So den Abschluss der Doha-Runde und die Ablehnung protektionistischer Massnahmen.
«Beides ist nicht geschehen. Schlimmer noch: Die Staaten tendieren dazu, ihre eigenen Märkte stärker abzuschotten», stellt der Genfer Professor fest.
IMF stärken
Eines ist gewiss: Die G-20 wird in London kein Wunderrezept zur Ankurbelung der Weltwirtschaft aus dem Hut zaubern können. Denn dazu bedarf es vieler mühsamer und vor allem kostspieliger Schritte.
Priorität hat die Reform der Internationalen Finanzinstitutionen. Zuoberst auf der Agenda steht hier die Neuausrichtung des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Unter Traktandum 5 figuriert der Kampf gegen Steuerparadiese auf dem Londoner Programm. Und hier ist die Schweiz direkt betroffen. Die Risiken, auf einer schwarzen Liste nicht kooperierender Staaten zu landen, hält Cédric Tille zwar für ausgeräumt. «Sollte aber am Ende des Gipfels nicht viel herauskommen, sind die Teilnehmer versucht, hier Lösungen in den Vordergrund zu rücken.» Dabei hätten die Steueroasen in keiner Weise mit dem Ausbruch der aktuellen Krise zu tun, stellt Tille klar.
Zeit der Ausreden vorbei
Die Schweizer Banker müssten jetzt ihre Ärmel hochkrempeln, empfiehlt Cédric Dupont. In der Krise um die nachrichtenlosen Vermögen in den 1990er-Jahren hätten die Schweizer Bankiers angegeben, dass sich ihr Wettbewerbsvorteil nicht auf das Bankgeheimnis stütze, sondern auf deren Know-how.
«Zehn Jahre später zeigt die Affäre der Schweizer Grossbank UBS in den USA, dass es eben doch das Bankgeheimnis war, das der UBS solche Wettbewerbsvorteile verschaffte.
Jagd nach Steuerzahlern
Die Vehemenz europäischer Staaten im Kampf gegen Steueroasen sorgte sowohl in der Schweizer Regierung wie auch in der Bevölkerung für grosse Unruhe. Die Bemühungen der Nachbarn sind aber vor dem Licht zu sehen, dass Deutschland, Frankreich und Italien mit Steueramnestien versuchen, ins Ausland gebrachte Vermögen wieder zurückzuholen. Diese würden Steuereinnahmen generieren, die in Krisenzeiten hochwillkommen sind.
Abgesehen von dieser Front erblickt Stéphane Garelli aber nicht viel Eintracht. «Ob die Bankenprobleme, die Frage der Boni oder die Steuerparadiese: Sie alle sind das Produkt einer gewissen Zwietracht der Staaten.»
swissinfo, Frédéric Burnand in Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Künzi)
Die G-20 entstand 1999 nach den Krisen in Asien und Russland als Dialogplattform zwischen Industriestaaten und Schwellenländern. Ziel ist die Stabilität der Weltwirtschaft.
Seit Ausbruch der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise im letzten Herbst haben sich die Chefs der G-20-Staaten ein erstes Mal in Washington getroffen.
2009 hat Grossbritannien die Präsidentschaft der G-20 inne.
G-20-Mitglieder: Südafrika, Deutschland, Saudi-Arabien, Argentinien, Australien, Brasilien, Kanada, China, Südkorea, USA, Frankreich, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Mexiko, Grossbritannien, Russland und die Türkei.
Der 20. Sitz ist für Internationalen Währungsfonds, Weltbank und die Europäische Zentralbank reserviert.
Die Schweiz sucht Anschluss an die G-20, um wenigstens bei den Vorbereitsungsarbeiten dabei sein zu können.
Laut einer bereits vorab veröffentlichten Version der G-20-Schlusserklärung werden spekulative Finanzvehikel wie Hedgefonds vom Forum für Finanzstabilität (FSF) beaufsichtigt. Darin ist auch die Schweiz vertreten.
Das FSF wird künftig Rat für Finanzstabilität heissen (Financial Stability Board).
Das Gremium wurde 1999 mit dem Ziel gegründet, Informationsaustausch und Zusammenarbeit zwischen den Finanzmarktaufsichten der einzelnen Länder zu verbessern.
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