Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Skyguide ist am Tod unserer Kinder schuld»

Angehörige der Crash-Opfer von Überlingen demonstrieren vor der Stadthalle in Bülach. Keystone

Im Prozess gegen Skyguide waren am Montag erstmals Angehörige der Opfer des Crashs von Überlingen anwesend. Sie erachten das Flugsicherungs-Unternehmen am Tod ihrer Kinder für schuldig.

Ebenfalls stark kritisiert wurde das Gebaren der Flugsicherung von einem unabhängigen Experten. Dieser wurde vom Bezirksgericht in Bülach befragt.

Die Klage der drei aus Russland angereisten Angehörigen von Opfern der Flugzeugkatastrophe von Überlingen war klar: «Skyguide ist am Tod unserer Kinder und Verwandten schuld» und «Der Tod unserer Kinder ist eine Schande für die Schweiz», stand auf Transparenten, die sie vor Verhandlungsbeginn in die Kameras hielten. Auch Bilder von einigen der 71 Opfer waren zu sehen.

«Wir sind hier, um zu zeigen, was passiert ist», erklärte Sulfat Hammatov, Vorsitzender der Vereinigung der Opferfamilien.

Verhandlungen blieben technisch und abstrakt

Dabei blieb die Verhandlung im improvisierten Gerichtssaal auch am vierten Prozesstag technisch und abstrakt. In der Befragung des Luftfahrts-Sachverständigen Peter Grössenbrunner war von einem «Target Level of Safety» (TLS) die Rede.

TLS ist ein Sicherheitswert, der das quantitative Risiko eines Ereignisses ausdrückt. Und von einer Formel wurde gesprochen – fünf mal zehn hoch minus neun – mit der sich dieser TLS berechnen lässt. Und von bestehenden Systemdefiziten.

Das damalige Vorgehen von Skyguide im Kontrollzentrum Zürich, den Flugverkehr trotz eingeschränkter Flugüberwachungssysteme nur mit einem Fluglotsen abwickeln zu lassen, sei laut dem Experten nicht mit internationalen Richtlinien vereinbar gewesen.

Der Pilot der Tupolew 154 der Bashkirian Airline habe dagegen keine Fehler gemacht. Er habe zurecht die Anweisung des Fluglotsen befolgt und nicht jene des bordeigenen Warnsystems, sagte der Gutachter.

Sprachbarriere

Die Russen sassen während der Verhandlung in den hintersten Reihen des Saals. Einige von ihnen hatten neben Medien-Dolmetschern Platz gefunden. So konnten sie dem Prozess zumindest etwas folgen. «Ich habe nun einen Eindruck, was passiert ist», sagte Wladimir Sawtschuk sichtlich mitgenommen.

«Wir trauern nun seit fünf Jahren. In Momenten wie diesen ist es, als sterben unsere Kinder erneut», sagte Rim Soufianov. Er hoffe auf Gerechtigkeit und darauf, dass Regeln und Richtlinien geändert würden. «Damit nicht weitere Leute das gleiche Schicksal erfahren müssen», sagte Soufianov.

Begleitet wurden die Männer vom US-Anwalt Gustavo E. Fuentes. Der Anwalt vertritt die Interessen von Angehörigen von 30 Opfern. Die drei Russen seien aber als Vertreter aller Angehörigen hier, sagte sein Schweizer Kollege Urs Saal. Sie wollten miterleben, was hier passiere.

Auch die Schweiz in der Verantwortung

Auch die Schweiz sehen die Russen in der Verantwortung. Er habe schon früher gesagt, 99% dieses Unternehmens gehörten dem Staat, sagte Rim Soufianov. «Wer ist nun verantwortlich, dass wir unsere Nächsten nicht mehr haben?»

In der gleichen Reihe wie die Väter von toten Kindern sass Francis Schubert, interimistischer Chef von Skyguide. Er wolle auf die Angehörigen zugehen, das Gespräch suchen, erklärte er. In der Verhandlungspause kam es vor dem Gerichtssaal zum Treffen.

Er wolle sich entschuldigen – in seinem Namen, aber auch im Namen der Geschäftsleitung und aller Mitarbeiter von Skyguide, so Schubert.

Die Entschuldigung gelte für alles, was bei Skyguide nicht richtig gelaufen sei und zu dieser Katastrophe beigetragen habe.

«Es ist mir wohl bewusst, dass diese Worte Ihr Leid nicht kompensieren können, aber es ist für uns wichtig, Ihnen zu sagen, dass wir die Lehren daraus gezogen haben», sagt Schubert. Ob es zu einem weiteren Treffen kommt, war zunächst unklar.

swissinfo und Agenturen

1.7.2002: Beim Crash einer Bashkirian Airlines (BAL)-Passagiermaschine und einem DHL-Frachtflugzeug über Überlingen am Bodensee sterben alle 71 Insassen der Maschinen. Die für den Luftraum zuständige Schweizer Flugsicherung Skyguide wird kritisiert.

7./8.8.06: Die Staatsanwaltschaft Konstanz tritt das Strafverfahren gegen Skyguide-Mitarbeiter an die Schweiz ab. Die Staatsanwaltschaft Winterthur erhebt Anklage gegen 8 Skyguide-Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung. Sie fordert Haftstrafen zwischen 6 und 15 Monaten.

18.12.06: Skyguide einigt sich mit Angehörigen von 30 Absturz-Opfern auf Entschädigung in unbekannter Höhe. Die Familien der restlichen 41 Opfer waren früher entschädigt worden.

Über eine Million Flüge werden jährlich im Schweizer Luftraum registriert. Ob es um Starts, Landungen oder Überflüge geht – die Skyguide AG sorgt im Auftrag des Bundes für eine sichere und wirtschaftliche Abwicklung der zivilen und militärischen Luftfahrt.

Jährlich gibt es in der Schweiz über eine Million Flüge nach Instrumentenflugregeln – Landungen, Starts und Überflüge von grossen und kleinen, zivilen und militärischen Flugzeugen.

Die Skyguide AG hat ihren Hauptsitz in Genf. Sie beschäftigt an 14 Standorten, vor allem den Flughäfen Zürich, Genf, Bern, Lugano und Sitten, rund 1400 Personen, davon 140 Auszubildende.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft