Wie lange wird die «Krise» dauern?
Die Schweizer Wirtschaft gibt Anlass zu Sorge. Das Wachstum stagniert und die Arbeitslosigkeit nimmt zu, über 100'000 sind jetzt ohne Arbeit. Müssen wir mit einer Wirtschaftskrise wie in den 90er Jahren rechnen?
Die Rahmenbedingungen erscheinen zwar besser als damals, trotzdem gibt es auch pessimistische Stimmen.
Die jüngsten Hiobsbotschaften stammen von Swiss Dairy Food und Air Switzerland. Anfang Woche kündigten beide eine bedeutende Zahl von Entlassungen an: 310 beziehungsweise 58 Arbeitsplätze werden abgebaut.
Einige Tage zuvor hatten bereits Publigroupe, Ruag und Baumgartner Papiers die Entlassung von insgesamt 500 Beschäftigten angekündigt. Und auch die NZZ-Gruppe und Rentenanstalt bauen Stellen ab.
Seit Jahresbeginn sind Tausende von Stellen verloren gegangen. «Und die Tendenz wird anhalten», prophezeit der Tessiner Ökonom Silvano Toppi.
Praktisch alle Branchen sind von diesem Negativtrend betroffen. Selbst die unantastbar geglaubte Finanz- und Bankenwelt muss in Folge des Börsentalfahrt und der italienischen Steueramnestie Federn lassen.
Stagnation oder Rezession?
Die wichtigsten Wirtschaftsexperten haben vor kurzem die Prognosen für das BIP-Wachstum für das laufende Jahr nach unten korrigiert: Die Erwartungen liegen nun im Durchschnitt bei einem Plus von 0,3%. Vor einigen Monaten war die Lage noch besorgniserregender: Von März 2001 bis März 2002 war das Wirtschaftswachstum während vier aufeinander folgenden Quartalen negativ.
Nach geläufigen Kriterien lässt sich daher von einer Rezession sprechen. Doch das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) bevorzugt den Begriff «Stagnation».
«Wir sprechen lieber von abgebremstem oder beschleunigtem Wachstum», sagt auch Bernd Schips, Direktor des Zentrums für Konjunkturforschung Zürich (KOF) gegenüber swissinfo. Die KOF rechnet gemäss der neuesten (pessimistischen) Prognose für dieses Jahr mit einer «roten Null», einem minus von etwa 0,1%.
Alles nur ein déjà-vu?
Definitionen hin oder her, ein Blick auf die Tatsachen lohnt sich: Wie zu Beginn der 90er Jahre stottert der Motor der Schweizer Wirtschaft und mag nicht richtig anspringen. Und wie damals steigt auch die Arbeitslosigkeit an. Im Moment beträgt die Quote 2,8%, 101’889 Personen sind Ende September als erwerbslos gemeldet. 1997 betrug die Quote 5,7%.
«Die Analogien hören hier aber auf. Damals war das makroökonomische Klima von einer sehr restriktiven Geld- und Steuerpolitik bestimmt. Die Bankenbranche befand sich in einer Umstrukturierungsphase, und der Franken erfuhr eine plötzliche und unerwartete Aufwertung», betont Bernd Schips.
«Heute befinden wir uns in einer vollkommen anderen Situation – einer besseren Situation. Ganz abgesehen vom internationalen Klima, für das wir keine Verantwortung tragen.»
Grosse Unsicherheit
Ganz anderer Ansicht ist Ökonom Silvano Toppi: «Das Grundproblem ist die Unsicherheit. Es ist nicht klar, in welche Richtung wir gehen. Und die aktuelle Wirtschaftspolitik, in der die Liberalisierung dominiert, akzentuiert diese Unsicherheit zusätzlich. So leicht werden wir da nicht raus kommen. Vor allem nicht, wenn wir auf diesem Weg weiter gehen.»
Toppi konstatiert vor allem eine Krise bei den Investitionen, «und dies trotz der extrem niedrigen Zinssätze, die eigentlich die Investitionen ankurbeln sollten». Daher glaubt der Ökonom nicht so sehr an eine Konjunkturkrise: «Es handelt sich um ein strukturelles Problem.»
Anstoss aus dem Ausland erwartet
Zwischen 1991 und 1996 stagnierte die Schweizer Wirtschaft, während die anderen Staaten der Organisation für Zusammenarbeit und wirtschaftliche Entwicklung (OECD) ein mittleres BIP-Wachstum von 12% erreichten. Heute ist die Schweiz hingegen in «guter» Gesellschaft.
Die ganze Weltwirtschaft tritt am Ort. Dies gilt zumindest für die entscheidenden Wirtschaftspartner der Schweiz (Europa, USA und Japan). Deshalb lässt sich nicht länger von einem «prinzipiellen Schweizer Problem» sprechen.
Der Vizepräsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB), Bruno Gehrig, ist davon überzeugt, dass die Schweizer Wirtschaft dieses Mal im richtigen Moment wieder anspringen wird.
Für die Schweizer Realität, die jeden zweiten Franken im Ausland verdient, kommt «der richtige Moment», sobald die Weltwirtschaft anzieht. In diesem Moment jedoch sind vor allem die Kriegstrommeln zu hören…
swissinfo, Marzio Pescia
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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