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Wieso veröffentlicht der Bund zwei unterschiedliche Arbeitslosenzahlen?

Eine ältere Frau steht an einem Schalter des RAV und redet mit einer Verwaltungsmitarbeiterin
Bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) waren Ende April fast 150'000 Arbeitslose registriert. (Gestellte Szene, Symbolbild) Keystone/Peter Klaunzer

Die Schweizer Behörden veröffentlichen zwei verschiedene Zahlen zur Arbeitslosigkeit. Der Unterschied ist beträchtlich. Schaut man auf den international vergleichbaren Indikator, steht die Schweiz nicht mehr ganz so gut da.

Auf den ersten Blick geht es dem Schweizer Arbeitsmarkt sehr gut: Die Arbeitslosigkeit liegt bei nur 2.4 Prozent. Das zeigen die Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Damit ist die Schweizer Arbeitslosigkeit im internationalen Vergleich tief. In der Eurozone liegt sie aktuell bei 6.4 Prozent – und damit um einiges höher als in der Schweiz.

Doch die vom Seco publizierten Zahlen sind für den internationalen Vergleich nicht geeignet. Dafür gibt es ein standardisiertes Mass. Ein Mass, das in der Schweizer Politik-Diskussion nur selten verwendet wird: die Erwerbslosigkeit gemäss International Labor Organisation (ILO). Sie wird vom Bundesamt für Statistik veröffentlicht. Und sie liegt sehr viel höher als die Seco-Zahlen.

Grosse Unterschiede in den Zahlen

So hat das Bundesamt für Statistik für den Dezember 2023 insgesamt rund 205’000 Leute als erwerbslos gemeldet – verglichen mit nur rund 95’000 Personen, die gemäss Seco als arbeitslos gelten. Der Unterschied beträgt rund 110’000 Menschen.

Im Geldcast spricht Fabio Canetg mit Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktexperte an der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich, über Löhne, Zuwanderung und Arbeitslosigkeit.

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Entsprechend gross ist auch der Unterschied in den Arbeitslosenquoten: Während das Staatssekretariat für Wirtschaft zuletzt eine Arbeitslosenquote von nur 2.4 Prozent meldete, beträgt die neueste Erwerbslosenquote gemäss ILO-Standardisierung 4.2 Prozent. Damit liegt die Erwerbslosenquote in der Schweiz – entgegen dem verbreiteten Glauben – höher als beispielsweise in Deutschland und in den Niederlanden.

Der grosse Unterschied in den Bundesdaten ist aber kein Grund zur Empörung, denn: Beide Zahlen sind richtig – nur eben verschieden. Sie werden beispielsweise unterschiedlich erhoben. Und sie kategorisieren gewisse Arbeitssuchende in anderer Weise.

Daher kommt der Unterschied

So kommen die in der Schweiz üblichen Seco-Zahlen zustande, indem gezählt wird: Und zwar alle Personen, die bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) gemeldet sind. Dazu gehören neben tatsächlich arbeitslosen Personen auch solche, die einem sogenannten Zwischenverdienst nachgehen. Menschen also, die temporär einen Verdienst haben, tatsächlich aber noch immer auf der Suche nach einer passenden Stelle sind.

Wer sich demgegenüber nicht beim RAV gemeldet hat, gilt gemäss Schweizer Definition nicht als arbeitslos. Klipp und klar schreibt das der Bund in einem FAQ auf seiner Homepage: «Sie gelten erst dann als arbeitslos, wenn Sie sich zur Arbeitsvermittlung angemeldet haben.»

Derweil wird die international vergleichbare Erwerbslosenquote mittels einer Befragung geschätzt. Dabei werden zufällig mehrere zehntausend Haushalte kontaktiert. So werden auch arbeitssuchende Personen erfasst, die sich nicht bei einem RAV gemeldet haben. Das kann beispielsweise darum der Fall sein, weil sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengelder haben. Dazu gehören etwa junge Eltern, die längere Zeit nicht gearbeitet haben, um ihren Nachwuchs grosszuziehen.

Die Arbeitslosigkeit steigt auch in der Schweiz

Der grosse Unterschied in den beiden Kennzahlen lässt sich also begründen. Und die gute Nachricht ist: Die beiden Zahlen schwanken relativ gleichmässig. Steigt also die Arbeitslosigkeit gemäss Seco, steigt auch die Arbeitslosigkeit gemäss ILO. Krisensymptome auf dem Arbeitsmarkt erkennt man also sowohl in den ILO-standardisierten Zahlen des Bundesamts für Statistik als auch in den Seco-Zahlen.

Und tatsächlich gibt es in den Seco-Arbeitslosenzahlen zurzeit Spannendes zu sehen. So hat sich die Schweizer Arbeitslosenquote zuletzt vergleichsweise schnell erhöht. Und zwar um rund einen Drittel in nur neun Monaten, von 1.7 Prozent im Dezember 2023 auf 2.4 Prozent heute. Das mitunter deshalb, weil die internationale Konjunktur weiterhin schwächelt. Das trifft auch die Schweizer Exportwirtschaft, zum Beispiel die Uhrenindustrie.

Besorgniserregend ist das Ausmass der Arbeitslosigkeit in der Schweiz aber noch nicht – weder aus Seco- noch aus ILO-Perspektive.

Hier geht es zum Geldcast in voller Länge mit Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktexperte an der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich:

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Autor Fabio CanetgExterner Link hat an der Universität Bern und an der Toulouse School of Economics zum Thema Geld­politik doktoriert. Heute unterrichtet er im Ökonomie-Masterlehrgang der Universität Neuchâtel, zudem ist er Dozent MAS an der Universität Bern. Als Journalist arbeitet er hauptsächlich für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) und SWI swissinfo.ch. Er moderiert den Geldpolitik-Podcast «GeldcastExterner Link» und den Finanzpodcast «Börsenstrasse FünfzehnExterner Link»

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