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«Wir sind das Verkehrsproblem»

Mobilität soll grenzenlos sein, möglichst individuell, auf Strasse und Schiene oder in der Luft. Keystone

Die Menschen erwarten von der Mobilität mehr Freiheit und Wohlstand. Aber: Mehr Mobilität bedeutet auch mehr Verkehr und dieser verursacht Probleme.

Eine Tagung auf dem Flughafen Zürich wollte den Dialog über eine nachhaltige schweizerische Verkehrspolitik in Gang setzen.

Was für ein Zauber ist im Begriff «Mobilität» enthalten? Was für Probleme sind damit verbunden? Wie können die Probleme gelöst werden?

Die erste Konferenz Mobilität Schweiz im neuen Dock Midfield auf dem Unique-Airport in Zürich-Kloten machte am 21. Mai einen entsprechenden Versuch. Eingeladen waren Vertreter des Strassen-, Schienen- und Luftverkehrs. Wissenschafter trafen Industrievertreter, auch Politiker legten ihre Meinung dar.

Nachhaltigkeit

Mobilitäts-Bedürfnisse wachsen und verändern sich. Der Begriff «Nachhaltigkeit» hat gerade in der Verkehrspolitik eine brisante Bedeutung. Die einen verstehen darunter genügend breite Strassen, auf denen sie sich und ihre Güter durch Berge und Täler befördern können, andere möchten, dass möglichst viele Flugzeuge problemlos landen und starten können. Eine weitere Gruppe verlangt den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und andere wiederum fordert möglichst wenig Verkehr, um die Natur für sich und folgende Generationen zu schützen.

Der Veranstalter von «Mobilität Schweiz: Erste Konferenz», Prof. Ernst A. Brugger, war nicht so vermessen, zu erwarten, dass die Tagung einen Konsens zwischen den verschieden Gruppierungen und Interessens-Vertretern herstellen könnte.

Breitgestreute Interessen

Die Referate offenbarten, dass die Interessen weit auseinander liegen. Für den Chef des Zürcher Flughafens, Josef Felder, ist es beispielsweise äusserst wichtig, in keiner Jahreszeit auf frische Spargeln verzichten zu müssen. Luftfracht sei dank finden die Gemüsestangen ihren Weg von Kalifornien oder Südafrika auf seinen Teller.

Balz Hösli, CEO des Osec Business Network Switzerland präsentierte dazu bemerkenswerte Zahlen: Gewichtsmässig befördert der Luftverkehr 4% aller Güter. Diese besitzen jedoch einen Wertanteil von 30%.

«Die Luftfahrt belastet die Umwelt am stärksten», führte Dr. K.O. Schallaböck vom Wuppertal Institut aus. Die tatsächliche Belastung tauche jedoch in praktisch keiner offiziellen Statistik auf, da nur der Schadstoffausstoss, der über dem Gebiet eines Staates anfällt, Eingang in die Berechnungen findet.

Mobilität als Geschäft

Hans Peter Fagagnini, CEO Hangartner AG und ehemaliger SBB-Generaldirektor gibt zu, dass für die Unternehmens-Landschaft das Geschäft mit der Mobilität im Zentrum stehe. Ihre Aufgabe sei nicht die Politik und auch nicht die Antwort auf die Frage, wieviel Mobilität denn noch erträglich sei: «Im Gegenteil: Eisenbahnern, Piloten, Schiffern oder Chauffeuren schlägt das Herz höher, wenn sie möglichst viele Menschen und Güter bewegen.»

Zunehmende Mobilität

In der Schweiz haben zwischen 1984 und 2000 die tägliche Unterwegszeit sowie die zurückgelegten Kilometer um rund 30% zugenommen.. Man ist heute rund 85 Minuten pro Tag unterwegs und legt dabei 37 Kilometer zurück.

Das Auto ist und bleibt das wichtigste Verkehrsmittel im Personenverkehr. Ein Drittel der Autofahrten sind jedoch kürzer als drei Kilometer. Die Auswertung der Volkszählung 2000 zeigt auf, dass heute praktisch jeder zweite Schweizer mit dem Auto zur Arbeit fährt. 1970 war es noch ein Viertel.

Ansprüche übersteigen Toleranzgrenzen

Die Summe die Mobilitäts-Ansprüche übersteigt bei weitem die gesellschaftlichen Toleranzgrenzen. Hohe Investitionskosten , Staus und Lärm- und Luftbelastung werden kritisiert. Ernst Brugger meint: «Alle wollen maximale Bewegungsfreiheit. Aber niemand will die negativen Folgen tragen.¨

ETH-Professor Heinrich Brändli stellte klar, dass der Verkehr in der Schweiz auch stark von der Europäischen Union geprägt sei. Pointiert fügte Brändli jedoch an: «Der weitaus grösste Teil unseres Verkehrs ist aber hausgemacht. Wir haben kein Verkehrsproblem; wir sind das Verkehrsproblem.» Dies sei aber auch eine echte Chance: «Weil wir handlungsfähig sind, sofern konsensfähig.»

Theoretische Bewunderung

Die Verkehrspolitik der Schweiz werde international anerkannt, geschätzt und bewundert. Brändli: «Das neuste Weissbuch der EU ist weitgehend deckungsgleich mit unserer schweizerischen Verkehrspolitik.» Darauf folgt die ernüchternde Feststellung: «Was von der Realisierung der hehren Vorsätze nicht behauptet werden kann.»

«Fetisch unserer Zeit»

Max Friedli, Direktor des Bundesamts für Verkehr, gab der Diskussion einen erweiterten Rahmen. «Die Geschwindigkeit und damit auch die Mobilität ist der Fetisch unserer Zeit.» Verloren gehe die Auseinandersetzung mit dem Raum, in dem wir uns bewegen und die Vorstellung, dass mit dem Fahren auch Erfahrungen verbunden sein könnten, die uns in einem anderen Sinn weiterbringen können, meinte er weiter.

Es sei nicht das -Bedürfnis nach Mobilität, das uns antreibe oder zwinge, mobil zu sein, erklärte Friedli. Ein Pendler benutze nicht drei Stunden pro Tag die Bahn aus reinem Vergnügen. Uns halte das Bedürfnis nach etwas ganz anderem auf Trab: Arbeit, Ferien, Kultur, Sport, Natur etc.

Friedli: «Der Grund der Mobilität liegt also gleichsam ausserhalb ihrer selbst. Mobilität ist in den meisten Fällen Mittel zum Zweck.»

Freiheit ist…

Friedli wandte sich energisch gegen Bemühungen, Mobilität und Verkehr einfach den bestehenden Bedürfnissen anzupassen. Der Massstab unseres Handelns sei das in der französischen Revolution formulierte Freiheitsprinzip: «Die Freiheit besteht darin, dass jeder alles tun darf, was keinem anderen schadet», eingebettet.

Friedli bezieht diesen Grundsatz auch auf die Verkehrspolitik: «Das Verkehrs-Aufkommen darf die Handlungsoptionen anderer Mitmenschen wie auch zukünftiger Generationen nicht beeinträchtigen.»

Durchzogene Bilanz

«Gut, dass man mal darüber gesprochen hat.» könnte eine Bilanz der Mobilitäts-Tagung sein. Es wurde aber nicht nur miteinander gesprochen, man hat sich auch gegenseitig zugehört. Ziel der Veranstalter war, dass sich im Gespräch der einzelnen Fraktionen die Einsicht durchsetzt, dass die vielfältigen Verkehrsprobleme nur gemeinsam gelöst werden können.

swissinfo, Etienne Strebel

Pro Sekunde wird ein m2 Boden überbaut
Pro Minute: 6 Autoabstell-Plätze
Pro Stunde: 6 Einfamilienhäuser
Pro Tag: 1 Bauernbetrieb (10 Hektaren)
Pro Jahr: Der Zugersee (3500 Hektaren)
Die Verkehrs-Fläche beansprucht heute einen Drittel der Siedlungs-Fläche.
Die Mobilität ist für diese Entwicklung massgeblich verantwortlich.

CO2 ist das wichtigste Treibhausgas und der Verkehr die wichtigste Emissionsquelle (30% ohne internationalen Flugverkehr)

Der Verkehr steht mit einem Anteil von 35% am Gesamt-Energie-Verbrauch an erster Stelle. Der Energie-Verbrauch des Strassenverkehrs ist wesentlich grösser als derjenige der Bahn.

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