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Die heidnischen Wurzeln von Ostern beleuchten

Der Theologe Othmar Keel befasst sich schon mehr als 50 Jahre mit dem Studium der Bibel. swissinfo.ch

Am Sonntag feiern gläubige Christen die Auferstehung Jesu Christi nach dem Tode. Doch für die meisten Menschen ist Ostern einfach ein Frühlings-Feiertag.

Der Schweizer Theologe Othmar Keel erklärt gegenüber swissinfo, wieso es Menschen schwerfällt, die Ostergeschichte zu verstehen. Und dass die grossen Weltreligionen mehr mit dem Heidentum gemein haben, als sie sich eingestehen mögen.

Keel ist emeritierter Professor für Studien des Alten Testaments an der Universität Freiburg. Er hat mehr als 40 Bücher geschrieben, darunter im letzten Jahr ein Standard-Werk über die religiöse Geschichte der Stadt Jerusalem und die Ursprünge des Monotheismus.

Keels Forschung konzentriert sich auf die kulturellen und historischen Verbindungen zwischen den monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) untereinander und den Verbindungen mit den polytheistischen Religionen (Vielgötterei), die diesen vorausgegangen waren.

swissinfo: Welche Bedeutung hat Ostern für Sie persönlich?

Othmar Keel: Wie alle wichtigen Feiertage ist Ostern vielschichtig. Am Anfang stand ein Frühlingsfest. Diese Ebene spricht alle an: Nach dem Winter blühen wieder Blumen, man verspürt Lust, ins Freie zu gehen.

Daneben finden wir die jüdische Ebene, den Exodus aus Ägypten, sowie die christliche Ebene, bei der es um das Leben nach dem Tod geht.

Was Ostern mir persönlich bedeutet, hängt ein bisschen von meiner Stimmung ab: Manchmal ist mir die Frühlingsbotschaft wichtiger, manchmal eine der anderen Ebenen.

Ich gehe normalerweise zur Messe und mache dann am Nachmittag einen langen Spaziergang im Walde. Ich pflege beide Aspekte, den christlichen, zu dem auch der jüdische gehört, sowie den Aspekt, den man als heidnischen Teil des Frühlingsfestes bezeichnen könnte. Ich denke, beides ist wichtig. Ich sehe das Ganze als eine kohärente Tradition.

swissinfo: Eier und Hasen werden mit Ostern in Verbindung gesetzt. Entwickeln wir uns zurück zu einer heidnischen, polytheistischen Gesellschaft?

O.K.: Wir sind schon etwas heidnisch. Ich glaube, das geht auf eine Aussage von Baruch Spinoza zurück, den jüdischen Philosophen: Deus sive natura. Gott ist ein anderes Wort für Natur. Ich denke, dass die Natur heute für viele Menschen der ultimative Horizont ist, auf den sie sich beziehen. Aber auch für gläubige Christen ist die Natur wichtiger geworden.

Wenn man einen Blick auf Erbauungs-Literatur wirft, stösst man auf Motive wie Regenbögen, Wälder, Flüsse, Quellen und so weiter. Viele Gläubige sind sich dessen nicht bewusst, aber die Natur ist sehr wichtig geworden. Für mich gehört dies mit zur jüdisch-christlichen, aber auch zur islamischen Tradition: Alle drei Religionen haben eine Basis in früheren polytheistischen Religionen.

Das Ei gehört seit dem Mittelalter zu Ostern. Die Fastenzeit wurde damals sehr strikte eingehalten. Wenn das Fasten an Ostern zu Ende ging, wurden in den Kirchen häufig Speisen gesegnet, darunter auch Eier. In Ägypten ist das Ei seit Menschengedenken ein Symbol für den Anfang. Christus ist aus dem Grab auferstanden, das kleine Küken schlüpft aus dem Ei. Das Ei ist ein Symbol, das sich auf verschiedene Schichten des Osterfestes bezieht, auf die heidnische und auf die christliche.

swissinfo: Ostern gilt aus theologischer Sicht als wichtigstes christliches Fest, und doch wissen ausserhalb der Kirche nur wenige, worum es genau geht.

O.K.: Ostern ist im Vergleich zu Weihnachten ein komplexer Festtag. An Weihnachten geht es um die Geburt eines Kindes, eine Erfahrung, die viele Menschen nachvollziehen können.

Aber wer hat schon eine Wiederauferstehung miterlebt? Ich denke, das ist der Grund. Während Jahrhunderten hatte es in der biblischen Tradition keine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod gegeben. Es ist schwierig, daran zu glauben, weil es nicht normal ist.

swissinfo: Denken Sie, dass wir heute als Gesellschaft unsere christlichen Traditionen vernachlässigen, weil wir Angst haben, Minderheiten und andere Religionen vor den Kopf zu stossen?

O.K.: Nein, ich denke es ist, weil wir nicht mehr gläubig sind. Viele Menschen investieren kaum noch etwas in ihren christlichen Glauben. Womit verbringen sie ihre Zeit, wofür geben sie ihr Geld aus? Für Reisen, um mehr über die Welt zu erfahren, um sich ein schönes Haus zu bauen – für viele weltliche Dinge eben. Das zeigt ein bisschen, was heute vielen Menschen wichtig ist.

Im Mittelalter wurde Geld ausgegeben für den Bau von Kirchen und Klöstern, um damit ein ewiges Leben sicherzustellen. Wer gibt heute noch sein Geld aus, um eine Kirche oder eine Kappelle zu bauen? Wer zahlt einen Priester dafür, in der Messe ein besonderes Gebet zu sprechen?

swissinfo: Im traditionell christlichen Westeuropa nimmt der Islam seit einigen Jahren mehr Raum ein. Wie weit sollte religiöse Toleranz gehen?

O.K.: Man hört Leute sagen, ‹wir dürfen in Riad keine Kirchen bauen, wieso sollten wir Minarette in der Schweiz erlauben?› Aber wollen wir wie die Saudis sein? Nein, so intolerant wollen wir nicht sein.

Normalerweise liebt ein Schöpfer seine Geschöpfe. Wenn man gewisse dieser Geschöpfe hasst, steht man nicht mehr auf der Seite seines Gottes. Wir können anderen nicht vorschreiben, was sie glauben sollen. Muslime sollen Minarette bauen, ihre Haare verdecken oder auch nicht. So lange sie damit nicht anderen Leuten schaden, habe ich nichts dagegen.

swissinfo: Sie sind seit mehr als 50 Jahren Theologe und haben sich mit vielen Fragestellungen befasst, jüngst mit der weiblichen Seite Gottes. Was beschäftigt Sie denn jetzt? Worauf richten Sie Ihr Augenmerk heute?

O.K.: Ich spreche viel über die so genannte vertikale Ökumene, insbesondere über die engen Beziehungen zwischen den polytheistischen, heidnischen Kulten und den später folgenden monotheistischen Religionen. Ein Glaube hat sich aus dem anderen entwickelt.

Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass viele Vorstellungen aus den heidnischen Kulten in den monotheistischen Religionen weiterleben. Und das ist wichtig, denn viele Menschen in unserer heutigen Gesellschaft glauben an die Natur. Ich denke, es ist immer wichtig zu betonen, was uns Menschen verbindet.

Im Christentum und im Judentum haben die Menschen gelernt, das Verbindende zu sehen, das gemeinsame Erbe, was zu einer jüdisch-christlichen Ökumene geführt hat, die es vor dem Holocaust nicht gegeben hatte.

Das Problem für alle monotheistischen Religionen ist es, auch eine Verbindung zu finden zu Heiden oder Natur-Anhängern, oder wie immer man sie nennen will. Diese Fragen beschäftigen mich von einem theologischen Standpunkt aus gesehen zurzeit am meisten.

swissinfo-interview: Morven McLean
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

Geboren am 6. Dezember 1937 in Einsiedeln.

Er studierte Theologie, Religionsgeschichte, Ägyptologie und altorientalische Kunst in Zürich, Freiburg, Rom, Jerusalem und Chicago.

Von 1967 bis 2002 lehrte Keel an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg das Studium des Alten Testaments. Heute ist er emeritierter Professor.

Im Jahr 2005 wurde Othmar Keel mit dem Marcel-Benoist-Preis ausgezeichnet, dem Schweizer Pendant zum Nobelpreis. Sein Werk trage zu einem besseren Verständnis des kulturellen und historischen Kontextes des Alten Testamentes bei, hiess es in der Begründung. Keels Werk sei von grosser Bedeutung, um die Wurzeln des gemeinsamen Erbes von Juden, Christen und Muslimen verstehen zu können.

Keel ist verheiratet. Die Familie lebt in Freiburg und hat zwei Kinder.

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