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Ostern mit dem Gott, den ich will

Jörg Stolz, Direktor des Observatoriums der Religionen in der Schweiz. (Bild: edipresse) UNIL

Die Osterbotschaft wird, verglichen mit anderen christlichen Feiertagen, immer weniger gehört. Und viele suchen die Befriedigung ihrer spirituellen Bedürfnisse in einer "do-it-yourself"-Religion.

Jörg Stolz, Soziologe und Beobachter der Religionen, im Gespräch zu den Veränderungen in der Schweiz.

Wie in vielen anderen Ländern verändert sich mit den neuen Modellen von Spiritualität auch in der Schweiz die Gemeinschaft der Gläubigen.

Der Grund liegt nicht nur in den gegenwärtigen Krisen der protestantischen und der katholischen Kirche, den beiden religiösen Hauptpfeilern der Schweiz. Zentral sind auch die Öffnung hin zu neuen Strömungen von anderen Kulturen und die immer grössere Bedeutung von verschiedensten religiösen Glaubensgemeinschaften.

Jörg Stolz ist Soziologie- und Religionsprofessor und Direktor des Observatoriums der Religionen in der Schweiz. An der Universität Lausanne forscht er, unter Einbezug der internationalen Entwicklungen, über religiöse Phänomene in der Schweiz.

swissinfo: Was ist der tiefere Sinn von Ostern für eine Konsumgesellschaft wie die unsere?

Jörg Stolz: Ich würde bestreiten, dass unsere Gesellschaft nur eine Konsumgesellschaft ist. Wir leben in der Spätmoderne, in welcher die verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereiche stark ausdifferenziert sind und sich die Individuen in nie gekanntem Ausmass individualisieren können.

Das heisst nicht nur mehr Konsumchancen, sondern auch mehr Möglichkeiten, Gefühle zu leben und Spiritualität zu erfahren. In diesem Sinne kann der tiefere Sinn von Ostern auch heute noch erfahren werden.

Soziologisch stellt man fest, dass die christliche Osterbotschaft im Vergleich mit anderen religiösen Angeboten eher ins Hintertreffen gerät.

swissinfo: Einerseits gibt es das Bedürfnis nach mehr Spiritualität, andererseits sind die traditionellen christlichen Kirchen in einer Krise. Ist das nicht ein Widerspruch?

J.S.: Die grossen Kirchen – und dabei vor allem die reformierte – stecken aus meiner Sicht vor allem in einer Krise, weil sie sich weiter als Volkskirchen verstehen wollen, die eigentlich alle einschliessen. Das wird je länger je weniger plausibel, je individualisierter unsere Gesellschaft wird.

Da sie sich als Volkskirchen sehr stark an den gesellschaftlichen «common sense» – den so genannten «gesunden Menschenverstand» – anpassen müssen, können sie kein starkes Profil gewinnen. Und genau das müssten sie, um wieder stärker zu werden.

Dass man das Gefühl hat, es gebe eine «Rückkehr der Religion», hängt zum einen damit zusammen, dass die grossen Kirchen die religiösen Bedürfnisse oft nicht mehr abdecken. Dann muss man aber auch sehen, dass «Sinnbedürfnisse» zutiefst menschlich sind und in immer wieder neuer Form auftauchen, auch in einer noch so modernen Gesellschaft.

swissinfo: Auch in der Schweiz orientiert sich die Bevölkerung immer stärker hin zu einer «do-it-yourself»-Religion, die nicht an eine bestimmte Kirche gebunden ist. Welche Konsequenzen kann dieses Phänomen haben?

J.S.: Es stimmt, dass es einen Trend zu immer mehr «Bastel-Religiosität» gibt. Das ist aber selbst ein Ausdruck einerseits eines allgemeinen Trends hin zur Individualisierung und andererseits eine Folge der Schwäche der religiösen Gruppen.

Stärkere religiöse Gruppen sozialisieren ihre Mitglieder im allgemeinen in bestimmte Richtungen und treten dem Phänomen des religiösen do-it-yourself entgegen. Die wichtigste Konsequenz der do-it-yourself Religiositäten mag sein, dass diese den Individuen in Krisenzeiten nicht besonders viel helfen, da der soziale Aspekt fehlt.

swissinfo: Wie bewerten Sie den Erfolg der Freikirchen wie beispielsweise der «International Christian Fellowship», der Gottes Wort an Rock- und Popkonzernen predigt, an denen Hunderte von Jugendlichen teilnehmen?

J.S.: ICF ist eines der erfolgreichsten Produkte in der gegenwärtigen evangelikalen Szene der Schweiz. Der Evangelikalismus ganz allgemein – mit gewissen Ausnahmen – zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er ein stures Festhalten an der Botschaft mit extremer Kreativität in der Präsentation dieser Botschaft kombiniert.

Wenn es darum geht, den Glauben zu «verkaufen», sind die Evangelikalen ganz bewusst völlig hemmungslos. So gesehen ist es nur konsequent, auch Rockkonzerte, die «krass einfahren», wie man in der ICF-Sprache sagen würde, einzusetzen. ICF sind nur die, die das mit am besten können.

swissinfo: Was müssten also die traditionellen Kirchen tun, um der Konkurrenz von alternativen Gruppen und Konfessionen etwas entgegenzusetzen und die Flucht der Gläubigen zu verhindern?

J.S.: Die Kirchen müssen sich noch mehr auf die neuen Bedürfnisse der Menschen einstellen, und sie dürfen keine Angst haben, eigene und unbequeme Positionen zu vertreten.

Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Meiner Meinung nach müssten die Kirchen vermehr auch international schauen, welche neuen Modelle Erfolg haben – und diese kopieren.

swissinfo: Die Schweiz bereitet sich vor, um im Juni den Papst zu empfangen. Kann der Papst aus Ihrer Sicht etwas zum Dialog zwischen Reformierten und Katholiken beitragen?

J.S.: Dies Schweiz ist ja von der Tradition her bikonfessionell, wobei manche Kantone traditionell protestantisch, andere katholisch und andere paritätisch geprägt sind.

Den Papst würde ich eher als Ökumene hinderliche Figur sehen. Gerade in seiner Stellung liegt ja einer der grossen Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten.

Und gerade dieser Papst hat die Öffnung der katholischen Kirche gegenüber anderen Konfessionen und Religionen, die in Vatikan II begonnen wurde, eher gebremst als gefördert.

swissinfo: Die spirituelle Welt aus dem Osten sowie die Immigranten, viele Muslime, haben das Bild der Gläubigen auch in der Schweiz verändert. Welchen Einfluss hat dies auf die traditionellen christlichen Religionen?

J.S.: Es ist richtig: Die Schweiz verwandelt sich zunehmend von einem bi-konfessionellen in ein multi-religiöses Land. Die Pluralität stellt jede einzelne der Religionen vor die schwierige Frage, wie man mit den religiösen Wahrheiten und Lehren der anderen Religionen umgeht.

Ob man einen Absolutheitsanspruch aufrechterhalten will oder sagt, die anderen meinten eigentlich das gleiche wie man selbst – nur auf umständlichere Weise – oder ob man sich auf einen interreligiösen Dialog einlässt, der die Möglichkeit beinhaltet, dass auch der andere Recht haben könnte.

Die grossen christlichen Kirchen sind auf dem Weg des interreligiösen Dialogs schon recht weit gegangen.

swissinfo-Interview: Raffaella Rossello

Gemäss den aktuellsten Zahlen ist 44% der Schweizer Bevölkerung katholisch,
37% protestantisch,
12% atheistisch.
Zunehmend sind die Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften, primär Muslime (4,5%).

Weiterhin bezeichnet sich die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer als dem christlichen Glauben zugehörig. Doch die Säkularisierung schreitet voran.

Die Zahl der Kirchenaustritte nimmt zu (sowohl bei den Katholiken wie bei den Protestanten). Sei es, um die Kirchensteuer zu vermeiden, weil man sich von Gott abgewandt hat, aus Desinteresse oder weil die traditionellen Gemeinschaften dem eigenen Bedürfnis nicht gerecht werden.

Im Gegensatz dazu sind andere Gemeinschaften auf dem Vormarsch, so beispielsweise die verschiedenen Freikirchen.

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