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Wer kann den Brand jetzt noch löschen?

Ein Palästinenser verbrennt vor der Geburtskirche in Bethlehem eine dänische Fahne. Keystone

Die gewalttätigen Proteste gegen Mohammed-Karikaturen weiten sich aus. Vermehrt melden sich aber auch in der Schweiz mässigende Stimmen.

Der Islamwissenschafter Reinhard Schulze und der Theologe Georg Pfleiderer mahnen zur Eindämmung des Flächenbrands.

Die muslimische Wut gegen die Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed macht sich in immer lauteren und gewalttätigeren Protesten Luft. Botschaftsgebäude und Einrichtungen der Europäischen Union (EU) werden angegriffen, Fahnen europäischer Länder angezündet.

Zugleich mehren sich nach dem ersten Schock aber auch die mässigenden Stimmen, auf westlicher wie auf muslimischer Seite. Der in der Schweiz lebende Intellektuelle Tariq Ramadan fordert auch die Muslime zu mehr Selbstreflexion auf, erklärt aber, dass dies nicht von aussen aufgezwungen werden kann.

Problematik wurde im Westen unterschätzt

Der Ethiker Georg Pfleiderer, Professor für Systematische Theologie an der Universität Basel, verurteilt die Gewalt entschieden und stellt ernüchtert fest: «Im Westen wurde bislang möglicherweise von vielen die Problematik religiöser Karikaturen bei Muslimen unterschätzt.»

Er lehnt es zwar ab, in den Ausschreitungen eine Bestätigung von Samuel Huntingtons These vom «Zusammenprall der Kulturen» zu sehen, schränkt allerdings ein, dass «solche Ereigniszusammenhänge zumindest Wahrheitsgehalte dieser These» zeigen.

«Umso wichtiger ist es, dass von westlicher Seite nicht einfach impulsiv – ängstlich oder aggressiv – , sondern besonnen reagiert wird. Dazu gehört, dass um Verständnis für demokratische Prinzipien und Verfassungsgrundsätze geworben wird», sagt Pfleiderer und folgert: «Es liegt also in der Hand aller Beteiligten, die These von Huntington im konkreten Fall zu relativieren.»

Das Christentum hat die Lektion der Aufklärung gelernt

Pfleiderer betont, dass in dieser Auseinandersetzung gerade auch mässigende und differenzierende Stimmen von muslimischen Intellektuellen wesentlich zur Entschärfung der Situation beitragen können.

Vergleichbare Karikaturen im christlichen Kontext würden bei Gläubigen sicher auch Empörung auslösen, aber wohl nicht im gleichen Ausmass wie jetzt die Mohammed-Karikaturen bei Muslimen. Der Theologe Pfleiderer begründet dies mit der «Lektion der Aufklärung», die das Christentum gelernt habe.

«Diese besagt, dass die Religion, in diesem Fall das Christentum, sich aus seinen ureigensten Anliegen heraus zur Wahrung von elementaren Menschen- und Grundrechten bekennen kann und muss, und dazu gehören die Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäusserung.»

Religiöse Tabuverletzung

Reinhard Schulze, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern, erklärt die massiven Proteste der Muslime mit der religiösen Tabuverletzung: «Das verursacht den Gläubigen psychischen und physischen Schmerz und geht weit über das hinaus, was eine normale Opferrolle in einer Karikatur ausmacht.»

Aber auch der politische Hintergrund, die Auseinandersetzungen im Irak und in den palästinensischen Gebieten, verstärke bei den Muslimen den Eindruck, den westlichen Angriffen an allen Fronten ausgesetzt zu sein.

Schulze glaubt durchaus, dass gewisse Regime im Nahen Osten diesen Konflikt instrumentalisieren: «Alles was sich zu einem grossen Konflikt zwischen der westlichen und der muslimischen Welt heraufbeschwören lässt, ist für manche Regime, etwa Iran, sehr produktiv, weil sie sich damit sehr viel besser legitimieren können.»

Der Dialog der Kulturen sei zwar damit noch nicht gescheitert, «aber heute immer mehr am Schwinden». Nachdem man in den 1990er-Jahren mit Huntingtons These einen Kulturkrieg geradezu heraufbeschworen habe, werde man diesen «Zauberlehrling jetzt nicht mehr los, weil sich die Akteure zunehmend an diesem Schema orientieren und tatsächlich ihre ganzen politischen Handlungen einbetten in so einen grossen Kulturkonflikt».

Schulze mahnt zu mehr Problembewusstsein im Westen: «Wer solche Karikaturen publiziert, sollte sich klar sein, dass die Opfer hier unter uns sind. Sie müssen also damit rechnen, dass die Opfer sich wehren.»

Ein Lernprozess sei jetzt angezeigt, der wohl ein paar Jahre dauern werde, meint der Islamwissenschafter.

swissinfo, Susanne Schanda

Im September 2005 veröffentlicht die regierungsnahe rechtsbürgerliche dänische Zeitung Jyllands Posten zwölf satirische Karikaturen des Propheten Mohammed.

Diplomatische Vertreter mehrerer arabischer Länder protestieren darauf bei der Regierung Rasmussen und verlangen eine Entschuldigung, was der Ministerpräsident vorerst ablehnt.

Als nächstes druckt am 10. Januar 2006 ein norwegisches Magazin und später weitere europäische Zeitungen, auch in der Schweiz, einzelne der Karikaturen nach.

Anfang Februar eskalieren die muslimischen Proteste, richten sich gegen weitere europäische Länder und haben bereits mehrere Todesopfer gefordert.

Gemäss der Volkszählung 2000 leben in der Schweiz 311’000 Muslime.
Die meisten von ihnen stammen aus dem Balkan oder der Türkei.
Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist von 2,2% im Jahr 1990 auf 4,3% im Jahr 2000 gestiegen.

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