Alt sein heisst nicht stehen bleiben
Altern heisst oft Einsamkeit, Verlust sozialer Bindung und Verlust an Mobilität. Senioren in Gland im Westschweizer Kanton Waadt kämpfen dagegen an. Sie haben sich entsprechend organisiert.
Langsam kommt der Abbau, langsam gehen die gesellschaftlichen Kontakte verloren, langsam kommt das Gefühl auf, in der eigenen Wohnung eingeschlossen zu sein, langsam rückt das Altersheim näher: Dieses Gefühl mag etwas stereotyp tönen, doch oft führt der Ruhestand genau in diese Richtung.
Dabei handelt es sich keineswegs um eine unabwendbare Entwicklung. Oft lässt sich das Schicksal auch in die eigene Hand nehmen. Dazu braucht
es guten Willen und Solidarität, wie die «Alten» von Gland bestätigen.
Die Waadtländer Gemeinde Gland hat sich sehr stark entwickelt: In 40 Jahren stieg die Einwohnerzahl von 2500 auf 12’000. Heute zeigt sich Gland als Abfolge von Mehrfamilien- und Reihenhäusern.
Kein eigentliches Zentrum, eingeklemmt zwischen dem Bahngeleise im Süden und der Nationalstrasse im Norden, entspricht Gland etwa dem, was Urbanisten als Schlafstadt bezeichnen. Positiv an Gland ist, dass der Ort ungefähr in der Mitte der beiden Wirtschaftszentren Lausanne und Genf liegt.
Solidarität verstärken
«Mit dem Wachstum der Bevölkerung wurden Schulen und weitere Infrastrukturen gebaut, die für die Neuankömmlinge nötig waren», sagt der 84-jährige Pierre Kister. Er ist Mitglied des Komitees Vivag, was soviel heisst wie «Vivre ensemble à Gland» (Zusammenleben in Gland). «Mit der Zeit sind viele hier geblieben und älter geworden. Erst dann bemerkte man, dass Strukturen und Orte fehlten, wo man sich treffen konnte.»
Vivag ist als Verein am 22. November 2012 aus der Taufe gehoben worden, mit dem Ziel, die Bandbreite der Dienste für Senioren auszuweiten, die Isolierung zu bekämpfen, die Identität als Bürger und vor allem die Solidarität zwischen den Einwohnern zu stärken.
Vivag ist offen für Leute, die über 55 Jahre alt sind. Überfliegt man die Liste der vorgeschlagenen Aktivitäten, zeigt sich, dass Vivag bereits etabliert ist: Für das erste Halbjahr 2013 sind bereits zwei A4-Blätter vollgeschrieben mit spontanen Malwerkstätten, Lachtherapien, Exkursionen, Filmvorführungen, Kochclubs, Velotouren, Informatikkursen etc.
Vorbereitet werden ausserdem Konferenzen, Zwischengenerations-Lunchs, die Kinder und Senioren zusammenführen, Kegelturniere und Klavierlektionen, wie Raphaël Voélin sagt, Animator der Waadtländer Sektion von Pro Senectute, der Fach- und Dienstleistungs-Organisation der Schweiz für ältere Menschen.
«Vergnügen, Vergnügen zu bereiten»
Das Projekt begann 2009, initiiert von der Gemeindebehörde. Pro Senectute wurde beauftragt, die Situation in der Gemeinde zu klären und eine Initiative unter dem Stichwort «Solidarische Quartiere» auf die Beine zu stellen.
«Die Untersuchung erbrachte, dass es vor allem an einer lokalen Identität, an Treffpunkten und gesellschaftlichen Zentren mangelt, die für Senioren geeignet sind», sagt Voélin. «Dazu kommen Probleme mit Mobilität und Transporten.»
Unterstützt von Pro Senectute haben die Senioren nun begonnen, sich zu organisieren und ein echtes Netzwerk zu knüpfen. «Gewisse Sachen waren zwar vorhanden, aber verzettelt», so Kister, der zusammen mit seiner Frau jeden Monat ein gemeinsames Essen bei sich zu Hause organisiert.
Die Art und Weise, wie Gland sein Gemeindeprojekt «Quarties solidaires» anging, wurde sogar im weit entfernten Paris registriert. Im November 2011 erhielt die Westschweizer Gemeinde von der damaligen französischen Ministerin für Solidarität, Roselyne Bachelot, eine Auszeichnung.
Dies gab den dynamischen Senioren von Gland einen zusätzlichen Ansporn. Der wichtigste Erfolg der Initiative jedoch bestand darin, den Sinn für Solidarität (wieder) zu wecken. «Je mehr ich mich einsetze, desto mehr werde ich mir bewusst, wie befriedigend es doch ist, Mitmenschen ein Vergnügen zu bereiten», sagt der 66-jährige Jean-Michel Bovon.
Bovon organisiert den «Seniorenfrühling», ein erstmals 2012 vom Stapel gelassenes Fest, das 2013 auf jeden Fall wiederholt werden soll.
Bestehendes Know-how abholen
Jeden Mittwoch können sich die Senioren von Gland treffen und Informationen austauschen. In einer Lokalität, die von der Behörde extra dafür zur Verfügung gestellt wird. «Ich bin Ingenieur», sagt der Rentner Alberto Bertschi vor 130 Personen, «und kann euch beraten, was den Kauf von Computern oder sonstiger Elektronik betrifft.»
Sie haben sich zur Gründungsveranstaltung versammelt, mit dem Willen, dem Projekt eine solide und nachhaltige Basis zu gewährleisten.
Bertschi wendet sich damit über die 130 Gründungsmitglieder hinaus an die Gesellschaft schlechthin: Hinter diesen Leuten, die einfach in die Kategorie «Senioren» schubladisiert werden, verbergen sich viele Kenntnisse und Know-how, das auch über die Schwelle von 65 Jahren hinaus abgerufen werden kann.
Die Initiative hat auch den Vorteil, dass Neuzuzüger besser intergriert werden können. Wie der 73-jährige Michel Porchet, der vor 11 Jahren nach Gland zog, nachdem er lange Zeit in Bern gelebt hatte. Als passionierter Biker legt er sich ins Zeug und organisiert Velotouren: «Für den nächsten Sommer ist eine Zweitagestour vorgesehen», sagt er ganz zufrieden.
Solch ein Enthusiasmus ermöglicht es auch jenen, die vorher vielleicht nie selbst initiativ waren, sich in neue Projekte zu vertiefen. So hat zum Beispiel einer der Senioren den Job übernommen, einen seit Jahren verlassenen Pétanque-Platz zu renovieren.
Aus Zuschauenden werden Mitspielende
Nicht immer ist es einfach, Senioren, die sich zurückgezogen haben, neu miteinzubeziehen. «Vor allem muss man diese Leute kennen», sagt die 65-jährige Gilberte Corbaz. «Wir versuchen, sie zu motivieren. Doch manchmal hat man Angst, sie zu stören.»
Oft gebe es auch Transportprobleme, was besonders in Gland der Fall sei, sagt der 63-jährige Jean-Luc Nicolet: «Die Gemeinde hat kein Zentrum und ist von zwei Bahnschienen getrennt. Es ist nicht einfach, von einem Ort zum anderen zu gelangen.» Schon der Einkauf oder das Entsorgen von Abfall könne kompliziert werden. «Wir helfen, wo es nötig erscheint», so Nicolet.
Es wäre völlig utopisch, die urbanistische Struktur von Gland von Grund auf zu modifizieren. «Unser Verein soll auch dazu dienen, die Senioren vor der Behörde mit unseren Bedürfnissen besser zu vertreten», sagt Gilberte Corbaz. Mit anderen Worten: Der Verein dient auch dazu, aus den Rentnerinnen und Rentnern nicht einfach nur Zuschauer, sondern aktive Akteure in der Gemeinschaft der Gemeinde zu machen.
Die Europäische Union EU hat 2012 zum Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen proklamiert.
Mit diesem Schritt will die EU die öffentliche Meinung auf den Beitrag aufmerksam machen, den ältere Menschen für die Gesellschaft leisten können.
Aktives Altern heisst «bei guter Gesundheit älter werden, sich gänzlich am Leben der Allgemeinheit beteiligen und sich in der Arbeit bestätigt fühlen».
Das Hauptgewicht wird auf drei Bereiche gelegt: Beschäftigung (den älteren Arbeitnehmern bessere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt anbieten), Teilnahme am sozialen Leben sowie Autonomie.
«Solidarische Quartiere» ist ein gemeinschaftliches Entwicklungsprojekt, das 2002 von der Waadtländer Kantonalsektion der Pro Senectute und der Stiftung Leenaards initiiert wurde.
Ziel des Projektes ist es, die Integration der älteren Menschen in ihren Wohnquartieren zu gewährleisten und die Solidarität zu entwickeln, um damit die Lebensqualität zu verbessern.
Es geht vor allem darum, die Quartierbewohner, die Quartiervereine und die Experten zur Zusammenarbeit zu ermutigen, um dadurch die Bedürfnisse und Ressourcen des Quartiers zu identifizieren. In einer zweiten Phase sollen praktische Lösungen entwickelt werden, um diese Bedürfnisse zu befriedigen.
Das Projekt umfasst vier Hauptphasen: Situationsanalyse, Ausgestaltung (die prioritären Fragenkomplexe definieren), Projektrealisierung sowie Bewertung.
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
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