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Atomaffäre: Anklage gegen die Tinners beantragt

Ein Mann - viele Journalisten: Andreas Müller stellt den Bericht den Medien vor. Keystone

Verdacht auf Entwicklung von Atomwaffen, Spionage für die CIA, Aktenvernichtung auf Druck der USA: Die Affäre Tinner beschäftigt seit 6 Jahren Politik, Justiz und Öffentlichkeit. Nun hat der eidgenössische Untersuchungsrichter beantragt, gegen die Tinners Anklage zu erheben.

Wenn die Geschichte frei erfunden wäre, gäbe sie ein perfektes Drehbuch für einen Kriminalfilm her. Sie spielt allerdings in einer realen Welt und wesentliche Aspekte bleiben bislang im Dunkeln.

Der eidgenössische Untersuchungsrichter Andreas Müller hat seine Voruntersuchung zu einem Teil der Affäre abgeschlossen und beantragt nun der Bundesanwaltschaft, die Tinners, Vater Friedrich sowie dessen Söhne Marco und Urs, wegen Beteiligung an der Entwicklung von Atomwaffen und damit Widerhandlung gegen das Kriegsmaterialgesetz anzuklagen.

Die Voruntersuchung befasst sich ausschliesslich mit der Zusammenarbeit der Tinners mit dem Netzwerk des pakistanischen «Vaters der Atombombe» Abdul Qadeer. Die Spionagetätigkeit der Tinners für den amerikanischen Geheimdienst CIA jedoch war nicht Gegenstand der Untersuchungen. Der Bundesrat hatte es den Untersuchungsbehörden untersagt, diesen Teil der Geschichte in ihre Arbeit einzubeziehen. «Die Zusammenarbeit mit der CIA wird auch im Hauptverfahren kein Thema sein», sagt Müller.

Offen ist, ob es überhaupt zu einem Hauptverfahren, also zu einem Verfahren vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona kommen wird. Müller hat nun seinen 174-seitigen Schlussbericht der Bundesanwaltschaft übergeben. Diese sei frei, Anklage zu erheben oder das Verfahren einzustellen, so der Untersuchungsrichter bei der Präsentation seines Berichts vor den Medien.

Am Gängelband der USA

Dabei kam er auch auf die vom Bundesrat in der Affäre Tinner im Herbst 2007 mittels Geheimbeschluss angeordnete Aktenvernichtung zu sprechen. «Die Exekutive hat massiv in den Gang der Justiz eingegriffen, indem sie die Beweise in einem hängigen Strafverfahren zerstören liess und der Bundeskriminalpolizei Dienstverweigerung befohlen hat», kritisiert Müller: «Eine Demokratie ohne Gewaltentrennung ist keine mehr.»

Wieso der Bundesrat mit allen Mitteln zu verhindern versuche, dass die Spionagetätigkeit der Tinners für die CIA untersucht werde, wisse er nicht, antwortet Müller auf eine entsprechende Frage. – Vor zwei Jahren hatte die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments die Aktenvernichtung als «unverhältnismässig» bezeichnet. In einem vor wenigen Tagen auch Schweizer Medien zugespielten Bericht kommt der ehemalige Inspektor der Internationalen Atomenergie-Behörde, der Amerikaner David Albright, zum Schluss, der Bundesrat habe die Akten auf Druck der CIA vernichtet. Zum selben Schluss kam im August 2008 auch die Bundesanwaltschaft.

Hilfe aus Deutschland

Die Vernichtung hat die Arbeit des Untersuchungsrichters zumindest in gravierender Weise erschwert. Das Aktendossier sei zu Beginn der Untersuchung unvollständig gewesen, sagt Müller: «98% der Beweismittel fehlten.» Erschwerend sei dazu gekommen, dass in der Anfangsphase die Bundepolizei nicht mit ihm zusammengearbeitet habe, da ihr dies von der Regierung verboten worden sei.

So habe er in mühsamer Kleinarbeit «ein unvollständiges Puzzle, das dennoch ein Gesamtbild erkennen lässt» zusammengestellt. Die Rekonstruktion der Beweise erleichtert hätten die auf dem Weg der Rechtshilfe von den deutschen Behörden erhaltenen Akten.

Das deutsche Bundeskriminalamt hatte bereits 2004, also vor der Schweiz, gegen die Tinners ermittelt. Einblick hatte Müller auch in einen Teil der kopierten Akten, die nach der Schredder-Aktion bei der Bundesanwaltschaft aufgetaucht waren. «Wir haben praktisch bei Null begonnen. Heute können wir ziemlich zufrieden sein mit dem Resultat», bilanziert Müller.

Atomtests belasten

Konkret wirft der Untersuchungsrichter den Tinners vor, dass diese seit den späten 1970er-Jahren für das Netzwerk von Khan an der Urananreicherung für die Produktion von Atomwaffen mitgewirkt haben. Bis zu einer allfälligen rechtsgültigen Verurteilung gelte die Unschuldsvermutung, betont Müller.

Spätestens seit den Atomwaffentests Pakistans im Mai 1998 hätten die Tinners wissen müssen, dass Khan das angereicherte Uran nicht für Atomkraftwerke, sondern für den Bau von Atombomben benutzte.

Die Untersuchung beschränkt sich auf den Zeitraum vom Mai 1998 bis zum Juni 2003. Müller begründet die Beschränkung damit, dass die Tinners laut seinen Erkenntnissen im Juni 2003 ihre Zusammenarbeit mit der CIA begonnen haben.

Bei den von Müller erhobenen Vorwürfen handelt es sich um Verstösse gegen das schweizerische Kriegsmaterialgesetz. Diese können mit einer Freiheitsstrafe von maximal 10 Jahren und einer Busse von bis zu 5 Millionen Franken bestraft werden. Im Falle von Marco Tinner, laut Müller der Buchhalter der Familie, kommt der Verdacht auf Geldwäscherei hinzu. Die Tinners sollen mit ihren Geschäften mit Khan einen Umsatz von 12 Millionen Franken erwirtschaftet haben.

1998: Der Schweizer Friedrich Tinner und seine Söhne Urs und Marco arbeiten für das Netzwerk von Abdul Qader Khan. Dieses liefert illegal Atomtechnologie an Iran, Libyen und Nordkorea. Manager des Netzwerkes ist der Sri Lanker Buhary Sayed Abu Tahir.

Ende 2003/Anfang 2004: Nach dem Auffliegen einer Lieferung von nuklear-technischem Material an Libyen stellt das Land sein Atomwaffenprogramm ein, Khan gibt öffentlich den Atomschmuggel zu.

Oktober 2004 bis September 2005: Die Tinners und andere Mitarbeiter von Khans Beschaffungsnetz werden verhaftet.

2006: Friedrich Tinner wird aus der Haft entlassen. Die USA ignorieren Rechtshilfegesuche aus der Schweiz in der Affäre Tinner.

Juli 2007: Bundesrat Christoph Blocher bespricht in Washington mit US-Justizminister Alberto Gonzales die Tinner-Affäre.

27. August 2007: Der Bundesrat lehnt eine Ausweitung der Strafverfolgung der Tinners auf den Bereich Spionage ab.

14. November 2007: Der Bundesrat beschliesst per Notrecht, einen Teil der Atomschmuggel-Akten zu vernichten: Baupläne für Atomwaffen, Gaszentrifugen und Lenkwaffensysteme.

März bis Mai 2008: Die Aktenvernichtung wird publik. Der Bundesrat verteidigt die Aktion. Sie sei in Absprache mit der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) erfolgt. Die Dokumente hätten ein Sicherheitsrisiko dargestellt.

8. August 2008: Die Bundesanwaltschaft erklärt, der Bundesrat habe die Vernichtung der Tinner-Akten auf Druck der USA angeordnet.

Dez. 2008/Jan. 2009: Urs und Marco Tinner werden nach gut 4 Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen.

22. Januar 2009: Die Geschäftsprüfungsdelegation bezeichnet die Aktenvernichtung als unverhältnismässig.

1. April 2009: Überraschend tauchen Kopien der Tinner-Akten im Archiv der Bundesanwaltschaft auf, die der Shredder-Aktion des Bundesrates entgangen waren.

24./30. Juni 2009: Der Bundesrat beschliesst, die Tinner-Akten den Strafverfolgungsbehörden zugänglich zu machen – ausser den Dokumenten mit Atombombendesign. Damit entbrennt ein Streit mit der Geschäftsprüfungskommission und den Justizbehörden, die Einsicht in alle Akten verlangen.

30. Aug. 2009: Das Bundesstrafgericht erlaubt dem URA die Sichtung und Durchsuchung der Akten, allerdings nur «soweit sie ihm vom Bundesrat zugänglich gemacht werden».

28. Jan. 2010: Das Bundesgericht stützt den Bundesrat: Das URA kann nur beschränkt auf die vom Bundesrat unter Verschluss gehaltenen Tinner-Akten zugreifen.

22. Dez. 2010: Der US-Atomwaffenexperte David Albright wirft dem CIA vor, zusammen mit der Bush-Regierung versucht zu haben, ein Strafverfahren gegen die Tinners zu verhindern. Die Schweiz habe die Tinners jahrelang gewähren lassen.

23. Dez. 2010: Der Eidgenössische Untersuchungsrichter Andreas Müller beantragt Anklagerhebung gegen die Tinners.

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