Auch Geistheiler prägen Schweizer Kultur
Dass ein Arzt einen Patienten zum Geistheiler schickt, um dessen Genesung zu beschleunigen, kommt in einigen Schweizer Regionen auch heute noch vor. Die Jahrhunderte alte Geistheilung ist stark verbreitet, aber Fachleute warnen vor Missbrauch.
Im Alter von 18 Jahren hatte sich der heute 42-jährige Olivier Pochon aus Dompierre im Kanton Freiburg bei einem Unfall am Bein Verbrennungen zweiten Grades zugezogen, die er in einem Walliser Spital behandeln liess.
Eine Pflegefachfrau des Spitals gab seinem Vater die Telefonnummer eines Geistheilers, der die Schmerzen mit Hilfe einer Praktik namens «das Geheimnis» lindern könne.
Heute kann Pochon nicht mit Sicherheit sagen, ob die Technik damals einen positiven Einfluss auf den Heilungsverlauf hatte, aber geschadet habe sie jedenfalls nicht. Der Schmerz verschwand mit der Zeit und die Verbrennung heilte.
Über die geheimnisvolle Praktik weiss Pochon nichts Genaues. «Der Heiler stellte nicht viele Fragen und wollte nur wissen, wo es schmerzt. Schliesslich sagte er, ‹ich werde tun, was nötig ist'», erzählt Olivier Pochon.
«Es hört sich an wie ein Gebet, ziemlich komisch. Man benutzt das Geheimnis des Schmerzes, um das ‹Feuer herauszuholen›, wie sie sagen.»
Olivier Pochons Vater hatte später selber Kontakt zu einem Geistheiler, der ihm «das Geheimnis» überliefert hat, so dass er nun selber andere heilen könne.
Die «geheime» Praktik ist in der französisch-sprachigen Schweiz stark verbreitet, vor allem in den Kantonen Freiburg, Jura und Wallis.
Das «Hôpital du Valais» in Sitten bietet einen breiten Fächer moderner medizinischer Leistungen an, aber auch «Geistheilung», falls ein Patient dies wünsche. Das Personal verfüge über Telefonnummern mehrerer Geistheiler aus der Region, die den Patienten in gewissen Situationen weitergegeben würden, sagt Florence Renggli, Medienverantwortliche des Walliser Spitals in Sitten, gegenüber swissinfo.ch.
«Geistheilung ist in dieser Region sehr verbreitet und einige Leute haben diese Kraft. Im Fall von starken Verbrennungen zum Beispiel geben wir den Patienten deren Namen weiter», sagt sie.
Bernhard Zürcher ist Künstler und aktiver Geistheiler im Kanton Waadt, der auch das «Geheimnis» praktiziert. Er habe seine Fähigkeiten zuerst unter Beweis stellen müssen, bevor ihm vor 20 Jahren die Praktik übertragen worden sei.
«Ich hatte es von einer Heilerin gelernt, die im Jura sehr bekannt war und inzwischen verstorben ist», sagt Zürcher. «Ich hatte sie gebeten, es mir beizubringen, aber sie liess sich Zeit damit. Sie liess mich mehrere Male an dreiwöchigen Kursen teilnehmen. Aber eines Tages erklärte sie sich bereit, mir zu erklären, wie «das Geheimnis» funktioniert.
Laut Zürcher hat jeder Heiler seine Spezialität. Zürchers Spezialgebiete sind Verbrennungen, Asthma-Anfälle und Gicht. Jeder Heiler habe auch seine eigene Technik in der Anwendung des «Geheimnisses».
Er selber benutze Analysen der Handschrift. Wenn der Fall nicht zu dringlich sei, bitte er den Patienten, sein Anliegen auf ein Papier zuschreiben und ihm dieses zuzuschicken. Anhand dieses Musters wendet Zürcher seine Heilungspraktik an, ohne den Patienten je zu Gesicht zu bekommen. Die Details der Technik werden – wie es der Name sagt – geheim gehalten.
Historische Gebete
Geistheiler sind auch in der Ostschweiz aktiv, vor allem im Kanton Appenzell Innerrhoden. Laut Roland Inauen, Direktor des kantonalen Amts für Kultur, haben sie in der Region und über die Landesgrenze hinweg Tradition seit mehreren Jahrhunderten.
Viele der Gebete, welche die Appenzeller Geistheiler heute verwenden, finde man in variierenden Formen von Sizilien bis Norddeutschland genauso wie in Texten aus der Zeit um 1000 n. Chr. Diese Gebete wurden jeweils an neue Generationen von Heilern weitergegeben, denn jeder Heiler ist selber dafür verantwortlich, jemandem sein Werk zu übertragen.
Normalerweise ruft die Heilung suchende Person oder deren Angehörige den Heiler an und beschreibt die Beschwerde. Dann beginnt der Heiler damit, für Linderung zu beten. Nicht selten werden Heiler auch gerufen, um Tiere zu behandeln. Solche Praktiken sind auf Schweizer Bauernhöfen tief verwurzelt.
Wer die Rolle eines Geistheilers ausübe, übernehme eine Verantwortung, die nicht mit Geld beglichen werde. Für ihre Praktiken dürfen sich die Heiler traditionsgemäss nicht bezahlen lassen. Trotzdem sei die Tradition in Appenzell heute weit davon entfernt auszusterben.
«Wir wissen, dass mindestens 20 Leute im Kanton Appenzell Innerrhoden heute sehr aktiv als Geistheiler arbeiten. Es ist erstaunlich, wie die junge Generation sich davon begeistern lässt. Sie betrachtet es als Teil unserer Kultur und unseres Gesundheitswesens, sogar eines grossen Teils davon», berichtet Inauen.
Schmaler Grat
Der Grat zwischen traditionellen und unheilvollen Praktiken sei schmal, sagt Dieter Sträuli, Präsident des nicht-kommerziellen Beratungszentrums Infosekta und ehemaliger Wissenschaftler der Psychologie an der Universität Zürich.
Infosekta versucht, Sekten- oder Kultopfer aufzuklären und ihnen zu helfen, sich von deren Einfluss zu lösen. Sein Team begegne manchmal Gruppen, in denen sich aus den Geistheiler-Praktiken eine gefährliche Dynamik entwickle, sagt Sträuli, der die Werte der traditionellen Geistheiler-Kultur anerkennt und glaubt, dass diese Patienten helfen könne.
«Wir haben es immer öfter mit Geistheilern oder Gurus zu tun, die in kleinen Dörfern tätig sind und plötzlich eine grosse Anhängerschaft anziehen», sagt Sträuli. «Anfänglich ist alles in Ordnung. Sie halten Seminare und Meditationen ab. Aber plötzlich werden die Leute abhängiger, und die Gurus nehmen ihrer Anhängerschaft immer mehr Freiheit.»
Sträuli erwähnt den Fall einer selbsternannten Heilerin, die ihre Gefolgschaft erniedrigte und für ihre eigenen Haushaltsarbeiten missbrauchte, bis sich jemand bei Infosekta erkundigt und über den Fall berichtet hat. Einige dieser Gefolgsleute hätten danach psychologische Betreuung benötigt, sagt Sträuli.
Verbindungen zu moderner Medizin
Obwohl Schulmediziner in seinem Kanton dazu neigten, Geistheilung als wirkungslose Behandlungsmethode zu verspotten, würden viele diese als Ergänzung zu ihren eigenen medizinischen Empfehlungen anwenden, sagt der Appenzeller Kulturdirektor Roland Inauen. Sie könne zur herkömmlichen Medizin «wunderbare komplementäre Effekte» haben.
«Es gibt Beschwerden, wie Warzen, die von Schulmedizinern mit Geistheilung behandelt werden. Sie empfehlen ihren Patienten, zuerst zu den Geistheilern zu gehen, bevor sie selber operiere oder sonst etwas unternehmen. Das wird heute noch häufiger gemacht als früher», sagt er. Dass Geistheilung bei Warzenbehandlung sehr wirkungsvoll sei, könne bewiesen werden.
Infosekta-Präsident Dieter Sträuli hingegen warnt,Geistheilung könne gefährlich oder sogar illegal sein, wenn Heiler Eingriffe vornähmen und ihren Patienten nicht rieten, einen Schularzt aufzusuchen.
«Die moderne Medizin ist zu weit weg von der Kommunikation – es geht nur um Körper, Stoffwechsel, Anatomie, Leichen, Sezieren, Chemie. Die Vorstellung, mit Reden etwas zu verändern, wird zum Beispiel in der Psychoanalyse übernommen. Die Bedeutung der Kommunikation ist viel wichtiger als wir denken.»
«Hier setzen Geistheiler an. Ein grosser Teil ihres Erfolgs, oder vermeintlichen Erfolgs, lässt sich mit dem Placebo-Effekt oder Suggestion erklären. Manchmal hilft das.»
Der Dachverband Schweizerischer Patientenstellen (DVSP) weist darauf hin, dass Geistheiler die konventionelle Schulmedizin respektieren und mit dieser zusammenarbeiten sollten.
«Es ist wichtig, dass Geistheiler ihre Grenzen kennen und Krankheiten und Verletzungen auch durch Schulmedizin behandelt werden», sagt ein DVSP-Sprecher gegenüber swissinfo.ch.
«Seriöse Geistheiler sollten ihre Patienten auffordern, ärztlichen Rat einzuholen.»
Das Bundesamt für Gesundheit nimmt gegenüber Geistheilern keine offizielle Position ein.
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