«Das Auto ist eine heilige Kuh»
Niklaus Oberholzer, Richter und Präsident der Anklagekammer des Kantons St. Gallen, über das Raserurteil von Schönenwerd, die Autowerbung und technische Eingriffe am Auto. Mit Tempoblockaden könnte Rasen eingeschränkt werden.
swissinfo.ch: Herr Oberholzer, wurde mit dem Urteil im Fall Schönenwerd ein Zeichen gegen das Rasen gesetzt?
Niklaus Oberholzer: Das Gericht hat mit diesem Urteil gezeigt, welchen Stellenwert es der Raserei zumisst. Dass es das überhaupt nicht toleriert und akzeptiert. Schon vor fünf Jahren hat das Bundesgericht in zwei Fällen eine Verurteilung wegen eventualvorsätzlicher Tötung bestätigt.
swissinfo.ch: Gleichwohl bezweifeln Sie die präventive Wirkung von harten Urteilen in Raserprozessen.
N.O.: Die Verurteilung erfolgte wegen eventualvorsätzlicher Tötung. Das heisst, das Gericht ging davon aus, dass sich der junge Mann Gedanken über die Konsequenzen machte, also den Tod anderer Verkehrsteilnehmer in Kauf nahm, als er sich auf das Rennen einliess. Wenn man ihm das unterstellen will, müsste man ihm konsequenterweise auch unterstellen, dass er den eigenen Tod in Kauf nimmt.
Wer sich aber nicht abschrecken lässt von der Vorstellung, dass er selbst umkommen könnte, wird sich wohl kaum Gedanken darüber machen, ob er nun eine zweijährige, dreijährige oder achtjährige Strafe bekommen könnte. Und der wird auch dann sich auf das Rennen einlassen, wenn die Strafe ausgesprochen hoch ist.
swissinfo.ch: Wieso lässt sich jemand auf solche Rennen ein?
N.O.: Er vertraut erstens darauf, dass nichts passiert, sonst würde er es vermutlich nicht machen, und er vertraut zweitens auch darauf, dass er nicht erwischt wird.
Aus der kriminologischen Forschung ist bekannt,dass nicht in erster Linie die Höhe der Strafe eine Rolle spielt, sondern die Gefahr, erwischt zu werden. Wenn die Chance, in ein Strafverfahren hineingezogen zu werden, praktisch gegen null tendiert, sind offenbar die Menschen bereit, sehr hohe Risiken in Kauf zu nehmen.
swissinfo.ch: Gibt es zu wenig Kontrollen?
N.O.: Eine höhere Kontrolldichte würde viel dazu beitragen, dass die Verkehrsregeln eingehalten würden. Wenn ich weiss, dass auf der Autobahn praktisch alle zehn Kilometer eine Kamera installiert ist, fahre ich anders. Eine erhöhte Kontrolldichte wäre bedeutend effizienter als hohe Strafen.
swissinfo.ch: Sind Raser mehrheitlich junge Männer mit Migrationshintergrund?
N.O.: Junge Männer sind es unbestritten. Wie weit der Migrationshintergrund mitspielt, kann ich nicht beurteilen. Es sind Machotypen, junge Männer mit hoher Risikobereitschaft, die völlig fahrlässig auf ihre Fähigkeiten glauben vertrauen zu können. Sie überschätzen sich selbst und leben rücksichtslos irgendwelche Defizite in diesem Bereich aus.
swissinfo.ch: Wie könnte man das Raserproblem lösen?
N.O.: Soweit mir bekannt ist, hatten die jugendlichen, männlichen Lenker keine besonderen Berufsperspektiven und waren wenig integriert. Das wäre ein erster Ansatzpunkt. Ein zweiter wäre allenfalls die Überlegung, warum sich junge Männer zu solchen Risiken verleiten lassen. Wenn ich mir die Werbebotschaften der Autoindustrie ansehe, frage ich mich, ob nicht auch sie einen Beitrag zu derartigem Verhalten leisten.
swissinfo.ch: Bräuchte es Vorschriften für die Autowerbung?
N.O.: Man hat Erfahrungen gesammelt mit Werbebeschränkungen im Bereich Alkohol- und Tabakprävention.So ist es heute zum Beispiel verboten, das Rauchen in einem genussvollen Umfeld darzustellen, mit einem Lebensgefühl zu verbinden. Auch die Autowerbung appelliert an Gefühle, wenn sie das Auto zum Status- und Machosymbol verklärt.
swissinfo.ch: Sollte man die Autowerbung ganz verbieten?
N.O.: Ich sage nicht, man soll sie verbieten; ich möchte nur eine Diskussion anregen, ob inhaltliche Beschränkungen sinnvoll wären.
swissinfo.ch: Analog zu den Beschränkungen in der Tabakwerbung würde man quasi das Vermittteln des «Freiheitsgefühls» in der Autowerbung verbieten?
N.O.: Man würde die Autowerbung auf die legitimen Bedürfnisse eines Menschen einschränken, mit dem Auto von A nach B zu gelangen, ohne dabei andere zu gefährden und ohne die Umwelt zu zerstören.
swissinfo.ch: Sind Sie ein Gegner des Autos?
N.O.: Ich bin weder ein Feind der Mobilität noch des privaten Autoverkehrs. Mir stellt sich aber die Frage, welche Funktion dem Auto in in einem sehr dichtbesiedelten Land mit einem hohen Verkehrsaufkommen zukommen soll.
swissinfo.ch: Würde die Autoindustrie Werbeeinschränkungen akzeptieren?
N.O.: Das glaube ich kaum.
swissinfo.ch: Haben Sie noch andere Ideen, wie man das Raserproblem entschärfen könnte?
N.O.: Einen ersten Schritt hat man bereits gemacht, indem man den Führerschein auf Probe eingeführt hat. Es gäbe weitere diskussionswürdige Ansätze, etwa technische Eingriffe bei Fahrzeugen.
swissinfo.ch: Woran denken Sie?
N.O.: In Versuchen wird getestet, die Geschwindigkeit mit den Möglichkeiten, die das GPS bietet, von aussen zu beeinflussen. In diesen Feldstudien wurde die Möglichkeit ausprobiert, direkt einzugreifen, die Motorenleistung zu reduzieren, wenn man in eine andere Zone fährt. So könnte direkt ins Fahrverhalten eingegriffen werden.
swissinfo.ch: Das wäre revolutionär…
N.O.: …und würde doch nicht alle Probleme lösen, denn auch mit 50 Stundenkilometern kann noch ein Kind unter ein Auto kommen. Doch für mich sind das zumindest Diskussionsansätze, an die man im Zusammenhang mit der Raserproblematik denken könnte.
swissinfo.ch: Wäre das politisch realisierbar?
N.O.: Da bin ich skeptisch. Das Auto ist in unserer Gesellschaft eine heilige Kuh. Jeder Änderungsvorschlag in diesem Bereich würde auf erheblichen Widerstand stossen. Die mächtige Lobby der Autoindustrie darf nicht unterschätzt werden.
Seit Ende 2005 wird in der Schweiz der Führerschein an Neulenker und Neulenkerinnen auf Probe ausgestellt. Die Probezeit dauert drei Jahre. Der unbefristete Führerausweis wird nach Ablauf der Probezeit und dem nachgewiesenen Besuch zweier Weiterbildungen auf Gesuch hin ausgestellt.
Das Amtsgericht Olten-Gösgen urteilte Ende Oktober über drei junge Männer im so genannten Raserprozess von Schönenwerd. Die drei hatten sich 2008 ein Autorennen in der solothurnischen Ortschaft geliefert. Dabei prallte der Vorderste in einen korrekt fahrenden Wagen. Eine 21-jährige Frau wurde dabei getötet.
Der Hauptangeklagte wurde wegen eventualvorsätzlicher Tötung zu fünf Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Die beiden anderen wurden vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, sie wurden jedoch wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln für schuldig befunden. Dafür erhielten sie eine teilbedingte Freiheitsstrafe von 28 Monaten.
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