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Missbrauchskandal in der katholischen Kirche: «Das Priesterbild und die Sexualmoral sind grundlegend zu hinterfragen»

Renata Asal-Steger
Renata Asal-Steger © Keystone/ Valentin Flauraud

Übermächtige Kleriker, rechtliche Benachteiligung der Frauen und eine toxische Sexualmoral: Die katholische Kirche brauche eine fundamentale Reform, wenn sie in der immer säkulareren Gesellschaft weiter existieren will, sagt Renata Asal-Steger, Präsidentin der Römisch-katholischen Zentralkonferenz der Schweiz.

SWI swissinfo.ch: Die Zahl der Kirchenaustritte steigt, die Ungläubigen sind in der Schweiz auf dem Weg zur grössten Gruppe. Was löst das in Ihnen aus?

Renata Asal-Steger: Dass die Menschen sich von Religionsgemeinschaften lösen, ist in ganz Europa und für viele Religions­gemeinschaften feststellbar. Die Gründe dafür sind vielfältig. Im Leben vieler Menschen spielt die Kirche kaum mehr eine Rolle. Der Kontakt ist verloren gegangen, sie haben sich von der Kirche entfremdet. Zudem gibt es Menschen, die sich zwar als religiös bezeichnen, dies aber unabhängig von Glaubensgemeinschaften leben, und es gibt Menschen, die gar keine religiösen Bedürfnisse haben.

Wie reagiert die Kirche? Gibt es eine Strategie, um die Kirchenaustritte einzudämmen?

Den Trend können wir nicht aufhalten. Wir wissen aber, dass sich das soziale Engagement der Kirche und persönlich gestaltete Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen positiv auf die Beziehung der Glaubenden zur Kirche auswirken. Demgegenüber gibt es zahlreiche Themen, wegen denen sich Menschen von der Kirche entfernen. Dazu gehören beispielsweise die fehlenden Reformen, die ungebrochene Machtfülle der Kleriker, die Stellung der Frau oder die geltende Sexualmoral. 

Hat die Kirche in der Schweiz etwas, das sie dieser Entwicklung entgegenhalten kann?

Die Strukturen der katholischen Kirche in der Schweiz sind weltweit einzigartig. Nur hier kennen wir in der Führung und in den Zuständig­keiten in den meisten Kantonen eine Dop­pelstruktur, das sogenannte duale System mit einer pastoralen Führungs­linie (unter dem Dach der Schweizerischen Bischofskonferenz) und einer staatskirchenrechtlichen Führungslinie (föderiert durch die RKZ, Anm. d. Red.). Diese Struktur existiert in den meisten Kantonen.

Die beiden Seiten haben zahlreiche Schnittstellen, doch sie unterscheiden sich unter anderem stark hinsicht­lich ihrem Führungs­verständnis und den Entscheidungskompetenzen.

Auf staatskirchenrechtlicher Seite gilt die Gleichbe­rechtigung. Entsche­idungen werden demokratisch gefällt. Wenn es um die Verwendung von Kirchensteuern geht, können grundsätzlich alle mitent­schei­den. Ebenso sind alle berechtigt, die Behörden zu wählen. Diese sogenannt duale Kirchenstruktur ermöglicht der katho­lischen Kirche in unserem Land sicherlich eine höhere Transparenz und Kontrolle, gerade im Umgang mit den Finanzen.

Wie steht es um die Kirchenfinanzen, schlagen die Austritte schon durch? Und gibt es Pläne, die Einnahmen zu diversifizieren?

Dank der Zuwanderung blieb die Zahl der Katholikinnen und Katholiken in den letzten Jahrzehnten recht stabil. Im Verhältnis zur Wohnbevölkerung ist die katholische Kirche zwar kleiner geworden, in absoluten Zahlen aber recht konstant geblieben ist.

Es ist davon auszugehen, dass sich die Kirchenaustritte künftig nicht mehr durch die Zuwanderung kompensieren lassen und somit auch finanziell spürbar werden. Dies zeigt auch eine Studie, welche die Römisch-katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und die Evangelische Kirche Schweiz (EKS) unter dem Titel «Zukunft der Kirchenfinanzen» veröffentlicht haben.

Auch wenn viele Kantonalkirchen noch keine finanziellen Rückgänge spüren, geht die Studie in den kommenden Jahren von einer deutlichen Verminderung der Einnahmen aus.

An einzelnen Orten haben kirchliche Organisationen begonnen, ihre Immobilien aktiv zu bewirtschaften, um neben der Kirchensteuer auch über Liegenschaften einen Ertrag zu generieren. Weiter wird versucht, für einzelne soziale Leuchtturmprojekte Sponsoren zu gewinnen.

Inwieweit trägt die Kirche eine Mitverantwortung für den Rückgang der Religiosität?

Ob die Menschen heute grundsätzlich weniger religiös sind, kann ich nicht beurteilen. Fest steht aber, dass die Kirchenbindung stark abnimmt. Und klar ist, dass die Kirche eine Mitverantwortung für die massiven Kirchenaustritte hat.

Die Menschen können sich mit vielem nicht mehr identifizieren. Sie haben Mühe mit einer Kirche, die sich vor allem mit sich und ihrem Image beschäftigt, anstatt für die Menschen da zu sein.

Die Reaktionen auf die Ergebnisse der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch im kirchlichen Kontext sprechen eine deutliche Sprache: Die Kirche muss sich grundlegend wandeln, wenn sie auch künftig eine Heimat für viele Menschen sein will.

Zudem vermute ich, dass wir als Kirche auch für die Abnahme an gelebter Religiosität eine Mitverantwortung tragen: Die kirchlichen Angebote orientieren sich meist nicht an den heutigen Bedürfnissen der Menschen, sondern halten am Bisherigen fest.

Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Säkularisierung weiter voranschreitet. Welche Legitimität haben die Kirchen dann noch? Welche Rolle bleibt ihnen?

Die Kirchen nehmen für die Gesellschaft einen unverzichtbaren Auftrag wahr. Wir engagieren uns in der Flüchtlingsbetreuung,

in der Jugendarbeit und bei älteren Menschen, in den Quartieren – das wäre alles nicht möglich ohne die Kirche, ohne ihre gewachsenen Strukturen mit viel Freiwilligenarbeit. Das gibt es beim Staat nicht. Es wäre ein grosser Verlust, wenn dies zerstört würde.

Für die Schwächsten einstehen, ihnen Schutz und Wärme bieten, das ist einer der Werte der Kirche, der auch in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft zentral ist. Natürlich muss sie dafür auch wirklich einstehen – was in der Vergangenheit leider oft nicht der Fall war.

Inwiefern glauben Sie, dass die jüngst heftig diskutierten Missbrauchsskandale dazu beigetragen haben, dass sich Menschen von der Religion abgewandt haben?

Es ist unbestritten so, dass viele Menschen der Kirche nicht mehr vertrauen. Sie trauen ihr nicht zu, dass sie in absehbarer Zeit das Problem mit dem sexuellen Missbrauch eindämmen kann, und treten deshalb aus der Kirche aus. Ich rechne leider mit einer enormen Austrittswelle. Ich verstehe dies, doch es schmerzt mich.

Sind Sie bei der Bewältigung dieses Skandals darum bemüht, ein positives Signal an die neuen Generationen zu senden, um die Zukunft der Institution zu sichern?

Jetzt geht es nicht um das Image der Kirche, sondern um die Betroffenen. Verantwortliche in der Kirche haben unzähligen Menschen unfassbares Leid zugefügt, sie manipuliert, verletzt, missbraucht. Die Kirchenverantwortlichen müssen nun alles daransetzen, dass solche Verbrechen nicht mehr passieren und keinen Nährboden mehr finden. Dafür braucht es einen grundlegenden Wandel: Die Macht muss geteilt und alle Menschen gleichberechtigt werden, das Priesterbild und die Sexualmoral sind grundlegend zu hinterfragen.

Fälle sexuellen Missbrauchs haben die katholische Kirche in vielen Ländern erschüttert. Unterscheidet sich das Krisenmanagement in der Schweiz in irgendeiner Weise von den anderen Ländern?

Die Studie zeigt klar auf, dass sich die Taten inklusive der Vertuschungsstrategien nicht von anderen Ländern unterscheiden. Die Schweiz hat aber im internationalen Vergleich sehr lange mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung gezögert.

Es brauchte einiges an Zeit, bis alle drei Aufraggeberinnen einer aktiven Aufarbeitung zugestimmt haben. Im Unterschied zu anderen Ländern gehen wir nun die Aufarbeitung national an, also im Verbund von Bistümern, Ordensgemeinschaften und staatskirchenrechtlichen Körperschaften.

Die Ergebnisse der Pilotstudie machen deutlich: es braucht einen grundlegenden Strukturwandel. Handeln ist angesagt.

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