Der Schweiz droht ein Mangel an Lehrkräften
Die Schweizer Lehrerschaft verbringt mehr Stunden in ihren Klassen als Berufskollegen in den Nachbarländern. Und der Mangel an Lehrkräften erfordert von den Verantwortlichen Massnahmen. Diese Schlüsse können aus dem neusten Ausbildungsbericht gezogen werden.
Die Schweiz ist das einzige Land der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), in dem die Ausbildung von Lehrkräften drei statt vier Jahre dauert.
Sie ist auch das Land, in dem die Lehrkräfte mehr Lektionen pro Woche erteilen, nämlich zwischen 28 und 32. Der europäische Durchschnitt liegt bei 20 bis 24 Stunden.
Mit diesen Vergleichen soll den politischen Verantwortlichen gezeigt werden, dass Massnahmen nötig sind. Denn es zeichnet sich ein Lehrermangel ab.
In einigen Kantonen haben die Lehrerinnen und Lehrer bereits um Unterstützung gerufen. Sie wurden für Stellen angestellt, für die sie nicht ausgebildet sind.
«Der gravierendste Lehrermangel herrscht bei den schwierigen Klassen, bei den Jugendlichen der Sekundarstufe I, in Mathematik und Naturwissenschaften», erklärt Anton Strittmatter, Pädagogikexperte der Arbeitsstelle der Deutschschweiz des Lehrerinnen- und Lehrerverbands Schweiz (LCH). «Die Tatsache, dass weniger Männer diesen Beruf wählen, vergrössert das Problem.»
Gemäss dem Bildungsrapport 2010, der Anfang Februar erschienen ist, schwankt der Prozentsatz der nicht genügend ausgebildeten Lehrkräfte zwischen weniger als 1% im Kanton Jura und ungefähr 16% im Kanton Luzern. Der Kanton Genf kennt das Problem nicht, und aus der Waadt sind keine Daten bekannt.
Ein Drittel wird pensioniert
«Es ist bekannt, dass innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre ein Drittel der Lehrkräfte pensioniert wird», sagt Georges Pasquier, der Präsident der französischsprachigen Lehrkräfte. «Aber das Problem ist nicht überall gleich akut. In der Deutschschweiz ist es in gewissen Regionen schlimmer.»
Die Gründe für die Fluktuation sind verschieden. Die Einführung von neuen Fächern, kleinere Klassen, der Zustand des Arbeitsmarktes oder neue Gesetze können die Nachfrage nach Lehrkräften beeinflussen. Die demografische Entwicklung ist von Region zu Region und von Stadt zu Stadt verschieden.»
Beat Zemp, der Präsident des Lehrerverbandes, ist ebenfalls beunruhigt. Er war am 18. März an einer Vollversammlung der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) dabei, wo das Problem besprochen wurde.
Gemäss den Lehrkräften gingen von den politischen Verantwortlichen positive Signale aus. «Aber ich hatte trotzdem den Eindruck, dass einige Verantwortliche noch nicht ganz erkannt haben, wie schwerwiegend das Problem ist», meint Zemp.
Neue Ausbildung
Bei der EDK relativiert Heinz Rhyn, Vorsteher der Abteilung «Qualitätsentwicklung», die Kritik lebhaft: «Wir nehmen das Problem ernst. Die Angst vor einem Lehrermangel ist gerechtfertigt, besonders auf der Sekundarstufe I.»
Weil die Ausbildung Sache der Kantone ist und die Probleme sehr stark von regionalen demografischen Unterschieden geprägt sind, kann die EDK allerdings keine nationale Kampagne für die Rekrutierung von Lehrpersonal führen.
Trotzdem: «In unserem Kompetenzbereich ergreifen wir Massnahmen», erklärt Hans Rhyn. Als Beispiele nennt er die Schaffung einer rechtlichen Basis zur Anerkennung einer Ausbildung, die Primarlehrerinnen und -lehrern erlauben würde, auf Sekundarstufe I zu unterrichten.
Die Pädagogische Hochschule Zürich ist bereits daran, diesen neuen Kurs vorzubereiten, doch die EDK hofft, dass dies auch anderswo umgesetzt wird. Die Konferenz kann die Angebote der Pädagogischen Hochschulen nicht mitbestimmen, aber sie kann die Anerkennung der Diplome gewährleisten.
Eine Frage des Geldes
Laut Strittmatter sind aber viel weitreichendere Reformen nötig, um die Attraktivität des Lehrerberufs zu erhöhen. «Die Löhne sind nicht konkurrenzfähig für eine Jugend, die sich an wirtschaftlichen Kriterien orientiert.»
Die Lehrerausbildung bleibt ein grosser Streitpunkt zwischen Lehrerschaft und Kantonen. «Es ist betrüblich, aber die EDK will nicht über die derzeit dreijährige Ausbildung hinausgehen», enerviert sich Pasquier. Derzeit ist Genf der einzige Kanton, der seine künftigen Lehrerinnen und Lehrer während vier Jahren ausbildet.
«Wir verlangen auch den Berufsmaster als Abschlusstitel der PH (Pädagogische Hochschulen), die sich zu veritablen Bildungsinstituten der tertiären Stufe entwickeln sollten. In Finnland, das in den Pisa-Studien überragend abgeschnitten hat, müssen alle Lehrerinnen und Lehrer, selbst jene auf Stufe Kindergarten, einen Master-Abschluss haben», betont Pasquier.
«Mir kommt es vor, als ob wir weiter am Basismodell bastelten, wie es im 19. Jahrhundert war, an einer Schule mit einem Lehrer pro Klasse. Dieses Modell hatte die Schaffung einer Elite zum Ziel. Dieses System bleibt selektiv, während wir heute alles daran setzen sollten, damit kein Kind auf dem Weg zurückbleibt.»
Ariane Gigon, Zürich, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Französischen: Eveline Kobler und Christian Raaflaub)
Das Schweizer Schulsystem sieht 9 Jahre obligatorische Schulzeit vor.
Die Harmonisierung zwischen den Kantonen integriert das Vorschul-Niveau, womit die obligatorische Schulzeit auf 12 Jahre steigen wird.
Derzeit dauert die so genannte «Primarschule» in der Mehrheit der Kantone 6 Jahre, in den Kantonen Aargau, Bern, Neuenburg und Tessin 5 und in Basel Stadt und der Waadt 4.
Die letzten 3 Schuljahre sind die Sekundarstufe I, in der zwischen Studiengängen mit höheren und solchen mit elementaren Anforderungen unterschieden wird.
Die Sekundarstufe II beinhaltet Gymnasium, Berufsschule, Berufsmatur und Fortbildungsklassen.
Alles, was nach diesen Schulen kommt, (Universität, Fachhochschule, Pädagogische Hochschule usw.), wird unter dem Begriff «tertiäre» Ausbildung zusammengefasst.
Man vermutet, dass ein Drittel aller Lehrerinnen und Lehrer in der Schweiz in den nächsten 5 bis 10 Jahren pensioniert wird.
In den Regionen mit einem starken Bevölkerungs-Wachstum – ohne Berücksichtigung der Zuwanderung – zeichnet sich ein Lehrermangel ab.
Laut dem im Februar publizierten Bildungsbericht Schweiz 2010 hat sich die Anzahl jener Lehrkräfte, die über 50 sind, erhöht und nimmt weiter zu. Sie dürfte bald durchschnittlich 35% erreichen.
2007 lag dieser Anteil im Kanton Tessin mit über 40% am höchsten, gefolgt vom Mittelland mit rund 33% und der Genfersee-Region mit knapp über 30%.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch