Frust im Alter: Wenn es keine Enkelkinder gibt
Immer weniger Menschen in der Schweiz haben Kinder. Während das oft eine freiwillige Entscheidung ist, leiden diejenigen darunter, die nicht mitbestimmen können: Senior:innen, die gerne Grosskinder hätten, aber keine bekommen.
Damit hatte Daniel* nicht gerechnet. Er und seine Mutter waren mitten in einem Streit, an den Grund kann er sich gar nicht mehr erinnern, und dann kam dieser Satz: “Und Grosskinder werde ich auch keine haben!”, brach es aus der wütenden Mutter heraus.
Daniel ist Mitte Dreissig, Einzelkind und hatte bis jetzt keine Anstalten gemacht, sich fortzupflanzen. Dass dies für seine Mutter eine grosse Besorgnis war, bekam er bei diesem Streit zu spüren.
Geburtenrate sinkt
Ein unerfüllter Wunsch nach Grosskindern schmerzt. So wie Daniels Mutter wird es in den nächsten Jahren immer mehr Menschen in der Schweiz gehen. Mit der stetig sinkenden Geburtenrate schwindet auch die Chance auf Grosskinder. Im Jahr 2022 ist die Geburtenrate auf durchschnittlich 1,39 Kinder pro Frau gesunken, wie das Bundesamt für Statistik festhältExterner Link.
Zum Vergleich: Im geburtenreichen Boomerjahr 1964 betrug die Geburtenrate 2,68. 1971 bekamen Frauen in der Schweiz zum letzten Mal durchschnittlich zwei Kinder, seither lag der statistische Wert stets darunterExterner Link. Um eine stabile Bevölkerung zu garantieren, wären heute 2,1 Kinder nötig – Zuwanderung nicht eingerechnet.
Mit diesen Zahlen ist die Schweiz nicht allein. Viele Länder in Europa blicken in eine kinderarme Zukunft. 2015 sorgte eine dänische Kampagne für mehr Geburten europaweit für Schlagzeilen. Die Kampagne des dänischen Staats zusammen mit einem Reisebüro warb mit einem Video für Ferien, in denen die Lust zur Baby-Produktion automatisch steigen würde.
Die Kampagne richtete sich jedoch nicht nur an Paare, sondern spezifisch an ältere Frauen, deren Grosskinderwunsch nicht erfüllt worden ist. “Do it for Mom”, lautet der Slogan und im Video werden aus traurigen, allein auf dem Sofa sitzenden Frauen jubelnde Grossmütter mit Enkel:in. Kinder sollen nicht nur den Fortbestand des Staats sichern, sondern auch die Senior:innen glücklich machen.
Das Ziel sind glückliche Grossmütter – so wollte Dänemark die Geburtenzahl ankurbeln:
Der Wunsch, Grossmutter oder Grossvater zu werden, kann sehr stark sein. Jeannine Hess, Studiengangleitung Master in Sozialer Arbeit und Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, sagt: “Für viele Menschen in der Generation der heutigen Grosseltern ist die Familie das ideale Lebensmodell. Kinder gehören bei ihnen zum persönlichen Lebenskonzept und zur Norm. Sie hatten selbst Kinder und erwarten deshalb, dass es auch Enkel gibt.”
Das beobachtet auch Peter Burri Follath, Mediensprecher von Pro Senectute: “Noch sind Seniorinnen in der überwiegenden Mehrheit, die selbst Kinder zu Welt gebracht haben und dies natürlich auch bei ihren Kindern sehen möchten.”
Der Wunsch nach Enkelkindern ist unabhängig vom Geschlecht. Die Gründe können aber unterschiedlich sein: “Bei Frauen war Care-Arbeit oft im ganzen Leben ein Thema, das auch im Alter weitergehen soll. Männer stellen sich in dieser Lebensphase eher die Frage nach der Hinterlassenschaft, wer erbt und was von ihnen erhalten bleiben soll, auch in der Form von Grosskindern”, sagt Hess.
Zudem sei bei Männern oft die Erwerbstätigkeit an erster Stelle gestanden. “Mit Grosskindern haben sie nochmals die Chance, sich familiär einzubringen und Kindern beim Aufwachsen zu erleben.”
Kinderlosigkeit belastet die Familienbeziehung
Wenn die eigenen Kinder aufgrund ihrer Lebensumstände oder aus medizinischen Gründen keinen Nachwuchs haben können, ist meist ein gewisses Verständnis da. Aber Kinder, die bewusst auf Kinder verzichten, können bei den verhinderten Grosseltern eine grosse Frustquelle sein. “Das kann eine Ohnmacht auslösen”, sagt Hess.
Die versteckten und offenen Erwartungen können auch die Beziehung zu den Kindern belasten. Anders als im Video der dänischen Kampagne haben Eltern meistens nicht sehr viel Einfluss auf die Nachwuchsplanung ihrer Kinder.
“Grundsätzlich ist Kinderlosigkeit ein grosses Spannungsfeld”, sagt Hess. Die Forscherin glaubt, dass es in Zukunft jedoch in der Schweiz immer mehr Menschen gibt, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden. Und somit auch die Zahl der Menschen ohne Grosskinder zunehmen wird.
Dass das Thema Kinderlosigkeit in allen Generationen ein schwieriges ist, zeigte sich auch bei den Recherchen zu diesem Artikel. Kaum jemand war bereit, über eigene Erfahrungen zu sprechen. Ein Senior:innenverband wollte seinen Mitgliedern die Frage nach einem Erfahrungsbericht gar nicht zumuten. Das Bild der glücklichen Grosseltern dagegen ist omnipräsent, beispielsweise in der Werbung.
Fehlende Enkel:innen – Chinas Bevölkerung schrumpft
Auf der ganzen Welt sehnen sich ältere Menschen nach Grosskindern. Doch die Chancen sind nicht überall gleich gut verteilt. Aufgrund der langjährigen Ein-Kind-Politik liegt in China oft die ganzen Hoffnung auf einem Paar Schultern. Dr. Jia* hat Glück: Ihre Tochter, ihr einziges Kind, möchte Nachwuchs.
Darüber ist die 57-jährige Chinesin, die in der Region Bern lebt und als Ärztin arbeitet, froh. Und nicht nur sie: Auch der Grossvater ihrer Tochter in China wünscht sich, dass seine Enkelin bald eine Familie gründen wird. Gleichaltrige in China haben bereits Kinder, nun ist er besorgt, dass es bei seiner Enkelin zu lange dauern könnte.
China hat im Januar Zahlen veröffentlicht, wonach das Reich der Mitte einen Bevölkerungsrückgang verzeichnete. Die Zahl der Geburten ist stark zurückgegangen, obwohl das Land 2016 die Zwei-Kind-Politik eingeführt hatExterner Link. «In urbanen Gebieten ist es heute nicht mehr unüblich, auf Kinder zu verzichten», sagt Dr. Jia.
Sei es, weil sich die Paare keine Kinder leisten können, die Karriere im Vordergrund steht, oder weil sie schlicht keine Kinder wollen. Für die ältere Generation ist diese Entscheidung jedoch nicht nachvollziehbar. «Kinder bedeuten in China Glück», sagt die Ärztin.
Die Familie hat in China einen hohen Stellenwert und die Enttäuschung, wenn die Enkel:innen ausbleiben, sei noch grösser als in der Schweiz, sagt Dr. Jia. Die älteren Menschen würden in eine regelrechte Depression verfallen.
Grosskinder als Altersvorsorge
Die Grosseltern übernehmen oft einen grossen Teil der Kinderbetreuung und -erziehung. Dies kann so weit gehen, dass eine Grossmutter zu ihren Enkel:innen in eine andere Stadt zieht, um sich um diese zu kümmern. Auch Dr. Jia hat ihrer Tochter schon zugesichert, dass sie ihre Grosskinder betreuen wird: “Einen Tag oder zwei Tage die Woche, ich bin da, wenn sie mich braucht.”
Irgendwann wendet sich das Blatt und die Grosseltern sind auf ihre Kinder und Kindeskinder angewiesen. “Wenn immer möglich, kümmert sich die Familie um die Grosseltern”, sagt Dr. Jia. “Auch finanziell.” Ärmere Menschen ohne Nachkommen sorgen sich deshalb darüber, wie sie ihren Lebensabend verbringen werden.
Ersatz-Grosskinder füllen die Lücke
Auch wenn die Enkel:innen nicht der Altersvorsorge dienen; die Enttäuschung über fehlenden Grosskinder kann grossen Kummer verursachen. Um diesen zu überwinden, ist viel Selbstreflexion notwendig. “Man kann sich überlegen, warum dieser Wunsch so stark ist”, sagt Jeannine Hess.
Trotz des Drucks, der in manchen Familien möglicherweise ausgeübt wird, können die eigenen Kinder nicht zu Nachwuchs gezwungen werden. “Man muss versuchen, die personale Identität über andere Bereiche herzustellen und so den eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden”, sagt Hess.
Was so viel heisst wie: Man muss etwas anderes finden, das einem Freude macht. “Soziale Kontakte spielen im Alter eine wichtige Rolle”, sagt Burri Follath von Pro Senectute. Wenn diese nicht in der Familie mit der Betreuung von Kindern ausgelebt werden können, gilt es, auf erfüllende Freundschaften oder ein Hobby zu setzen.
Doch man kann auch ohne eigene Enkelkinder in der Rolle einer Grossmutter oder eines Grossvaters aufgehen. Diverse Projekte haben die Lücke erkannt und vermitteln Wunschgrosseltern mit Ersatzenkeln.
Zum Beispiel auf misgrosi.ch, wo neben Kinderbetreuung in den Inseraten oft auch der Wunsch nach einer innigen Beziehung geäussert wird. Sind diese Austausche wirklich mehr als gratis Care-Arbeit? Auf jeden Fall, findet Jeannine Hess. “Es ist ein Geben und Nehmen. Ältere Menschen bleiben durch den Kontakt zu Kindern auf dem neusten Stand, zum Beispiel beim Bedienen des Smartphones.”
In der Schweiz würde diese Form von Unterstützung und Austausch nicht genug genutzt. “Ausserfamiliale generationenübergreifende Beziehungen werden noch zu wenig gelebt.” Damit der Frust im Alter nicht so gross ist, empfiehlt es sich zudem, sich schon vor dem Pensionsalter mit der möglichen eigenen Grosskinderlosigkeit auseinanderzusetzen.
Mitarbeit: Xudong Yang. Editiert von Marc Leutenegger
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