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Lebenslange Freiheitsstrafe für Sperisen

Erwin Sperisen, der ehemalige Polizeichef Guatemalas mit Schweizer Wurzeln, muss wegen Mord hinter Gitter. AFP

Das Genfer Strafgericht hat den schweizerisch-guatemaltekischen Doppelbürger Erwin Sperisen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der ehemalige Polizeichef von Guatemala wurde als Mittäter bei sechs Morden an Häftlingen und als Täter in einem weiteren Fall schuldig gesprochen.

Staatsanwalt Yves Bertossa hatte für Sperisen eine lebenslange Haftstrafe wegen zehnfachen Mordes verlangt. Zum einen ging es um drei Häftlinge, die im Oktober 2005 aus dem Gefängnis «El Infiernito» ausgebrochen waren und später erschossen wurden. Zum anderen soll der ehemalige Polizeichef von Guatemala im September 2006 bei der Erstürmung des Gefängnisses Pavon die Exekution von sieben Gefangenen angeordnet haben.

Sperisen bestritt die Vorwürfe und beteuerte während des ganzen Prozesses immer wieder seine Unschuld. Seine Anwälte hatten auf Freispruch plädiert.

Was war geschehen?

Sieben Häftlinge waren am 25. September 2006 bei der Erstürmung des Gefängnisses Pavón in der Nähe von Guatemala-Stadt durch die guatemaltekischen Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Pavón war zu diesem Zeitpunkt von den Insassen selbst verwaltet worden; dem Staat war die Kontrolle über die Haftanstalt bereits Ende der 1990er-Jahre entglitten.

Diesem Treiben wollten die Sicherheitskräfte damals ein Ende setzen. In schwerer Kampfmontur fanden sich in den frühen Morgenstunden dieses Tages über 2000 Polizisten und Soldaten vor dem Eingang des Gefängnisses ein. Auch Erwin Sperisen war als damaliger oberster Befehlshaber der Polizei vor Ort.

Über das Geschehen danach widersprachen sich die Darstellungen von Anklage und Verteidigung.

Zweieinhalb Jahre hat Yves Bertossa gegen Erwin Sperisen ermittelt, bevor er Anklage wegen zehnfachen Mords erhob.

Dieser internationale Strafprozess war der bedeutendste Fall in Bertossas junger Karriere.

Rechtshilfegesuche schickte er um die halbe Welt und reiste ihnen später für Zeugeneinvernahmen nach. Sperisens Anwälte reichten diverse Befangenheitsklagen ein, Bertossa parierte sie. Er ist mit Strafverfolgern im Ausland gut vernetzt.

2008 hatte der Genfer Staatsanwalt mit der Verhaftung des libyschen Diktatorensohns Hannibal Ghadhafi für Aufsehen gesorgt. Sein Vorwurf: Ghadhafi und seine Frau hätten während ihres Aufenthalts in einem Genfer Hotel eine Bedienstete misshandelt.

Die Verhaftung wurde zu einer Staatsaffäre. Aussenministerin Micheline Calmy-Rey schaltete sich ein. Bertossa betont, was er schon damals verkündete: «Strafverfolger haben sich an Gesetze zu halten.» Und: «Vor dem Recht sind alle gleich.»

(Quelle: Der Bund)

Gezielte Tötung?

Der Staatsanwalt und mit ihm die Anwälte der Zivilklägerin – die Mutter eines getöteten Häftlings – sahen es als erwiesen an, dass das Ziel nicht nur darin bestanden habe, das Gefängnis zurückzuerobern. Parallel dazu sei geplant gewesen, die einflussreichsten Häftlinge gezielt umzubringen. Man habe zu diesem Zweck im Vorfeld eine Liste mit Namen erstellt. Während der Erstürmung seien diese Insassen ausgesondert und kaltblütig ermordet worden. Dass es sich bei den Opfern des angeblichen Schusswechsels ausgerechnet um die Drahtzieher von Pavón handle, sei kein Zufall.

In der Tat seien diese Personen nicht zufällig gestorben, hatten Sperisens Anwälte erklärt. Sie seien schliesslich die Anführer des Widerstands der Häftlinge gewesen. Dass es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung gekommen sei, bestätigten unzählige Zeugen. Die Anklage machte ihrerseits mehrere Zeugenaussagen sowie Fotografien, Videosequenzen und Autopsieberichte geltend, die das Szenario mit den gezielten Hinrichtungen unterstützen.

Die Anklage hatte sich auch auf die Aussage eines ehemaligen Häftlings berufen, der mit eigenen Augen gesehen haben will, wie Sperisen einen Häftling aus nächster Nähe erschossen habe. Der inzwischen entlassene Franzose – der damals wegen zweifachen Mordes in Pavón einsass – hat seine Anschuldigung vor Gericht in Genf wiederholt.

Weil der Mann im Laufe der Ermittlungen jedoch widersprüchliche Angaben zum Zeitpunkt und zur Art der angeblichen Hinrichtung gemacht hatte, haben Sperisens Anwälte Anklage wegen falscher Zeugenaussage eingereicht. «Glauben Sie wirklich jemandem, der zwei Leute auf dem Gewissen hat?», fragten sie die Richter.

Ex-Polizeichef von Guatemala in Genf vor Gericht (Tagessschau SRF 15. Mai 2014)

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«Todesdrohungen gegen Familie»

Sperisen hatte vor Gericht betont, wie schwierig es sei, in Guatemala Polizeichef zu sein. Diverse Attacken habe er überlebt, gegen seine Familie seien ständig Todesdrohungen ausgesprochen worden. «Heute frage ich mich, ob es notwendig war, das alles auf mich zu nehmen», sagte der 43-Jährige im Prozess. An die sieben Richter gewandt, fügte er bei: «Es liegt in Ihren Händen, darauf eine Antwort zu geben.» Sein Schlusswort klang so, als wollte er die ihm zur Last gelegten Taten rechtfertigen.

Erst am Ende wiederholte Sperisen, was seine Anwälte Florian Baier und Giorgio Campa in ihrem über fünfstündigen Plädoyer hervorgehoben hatten: Er habe niemanden umgebracht und auch niemanden ermorden lassen. Stattdessen habe er inner- und ausserhalb der Polizei viele Feinde. Dieser Prozess sei die Folge davon.

Sperisens Verteidiger hatten sich gar nicht erst daran gemacht, die ihrem Klienten zur Last gelegten Beweise zu entkräften, sondern attackierten in erster Linie die Zeugen der Anklage, denen sie Falschaussagen vorwarfen, wiesen auf Korruption und die organisierte Kriminalität in Guatemala hin und monierten Verfahrensfehler.  

Die aussergerichtlichen Hinrichtungen von zehn Häftlingen in Guatemala in den Jahren 2005 und 2006 beschäftigen nicht nur die Justiz in der Schweiz, sondern auch jene in Österreich und Spanien.

Österreich

 

Javier Figueroa, von 2004 bis 2007 stellvertretender Polizeichef Guatemalas, heute politischer Flüchtling in Österreich.

2013 wurde er in Österreich wegen derselben Verbrechen wie sein Jugendfreund Erwin Sperisen unter Anklage gestellt.

Das lokale Volksgericht sprach ihn mangels Beweisen frei.

Spanien

Carlos Vielmann, ehemaliger Innenminister und direkter Vorgesetzter Erwin Sperisens, spanisch-guatemaltekischer Doppelbürger, lebt heute in Spanien.

Aufgrund seiner Doppelbürgerschaft kann ihm dort wegen der 10 aussergerichtlichen Hinrichtungen ebenfalls der Prozess gemacht werden.

Seit 2007 in der Schweiz

Erwin Sperisen war zwischen 2003 und 2007 in Guatemala Chef der Nationalen Zivilpolizei (PNC). 2007 zog er mit seiner Familie in die Schweiz, weil er in Guatemala laut eigenen Angaben bedroht worden sei. Während fünf Jahren lebte Sperisen mit seiner Familie in Genf. Dort war er im Visier einer Koalition von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die ihn aufspüren und vor Gericht bringen wollte.

Eine UNO-Kommission warf ihm vor, Drahtzieher von aussergerichtlichen Hinrichtungen gewesen zu sein und zusammen mit anderen hohen Funktionären des Landes eine kriminelle Organisation gebildet zu haben.

2012 wurde der ehemalige Polizeichef verhaftet und nach zwei Jahren Untersuchungshaft von Staatsanwalt Yves Bertossa unter Anklage gestellt. Dieser glaubte, genügend Beweismaterial zusammengetragen zu haben, um ihn wegen zehn aussergerichtlicher Erschiessungen anklagen zu können, in einem Fall als direkten Täter.

Die NGO begrüssten die Verurteilung als wichtige Etappe im Kampf gegen Straflosigkeit. «Die Verursacher von schweren Straftaten – so hochrangig sie auch sein mögen – sind nicht vor Strafverfolgung geschützt. Deren Opfer – woher sie auch kommen mögen – verdienen Gerechtigkeit», teilte die Schweizerische Gesellschaft für Völkerstrafrecht TRIAL nach dem Prozess mit.

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