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Mythos reiche Schweiz: Prekäre Lebensbedingungen gibt es auch hier

Kind am Esstisch
Steigende Mieten, knapper Wohnraum, Inflation und stetig steigende Krankenkassenprämien: Wer in der Schweiz lebt, verdient zwar gut, doch was am Ende des Monats übrig bleibt, wird immer weniger. © Keystone / Christian Beutler

"Sie sind aus der Schweiz? Sie müssen reich sein!" Alle Rechnungen bezahlen und das Leben geniessen können: So werden Schweizer Löhne von der Aussenwelt wahrgenommen. Doch der unaufhaltsame Anstieg der Lebenshaltungskosten treibt normale Familien zu den Essensausgabestellen. Sozial- und Wirtschaftsfachleute schlagen Alarm.

Während in vielen Ländern ein Monatslohn von 4000 Franken als gutes Einkommen gilt, kann ein solches in der Schweiz Einzelpersonen und Familien an den Rand der Armut bringen.

Steigende Mieten, Wohnungsnot, Inflation und stetig steigende Krankenkassenkosten: Wer in der Schweiz lebt, bekommt zwar einen relativ hohen Lohn, aber am Ende des Monats bleibt immer weniger davon übrig.

+ Mehr dazu: Der Durchschnittslohn in der Schweiz beträgt rund 6000 Franken: Was bekommt man dafür?

«Über Geld reden wir nicht»

Seit der Covid-19-Pandemie sei die Situation für viele Menschen und Familien in der Schweiz prekär geworden, sagt Daniel Lauper, Verkaufsleiter bei Caritas. Diese gemeinnützige Organisation setzt sich für die Verhinderung und Linderung der Armut in der Schweiz ein.

Das Schamgefühl der Hilfesuchenden sei schmerzhaft. «In der Schweiz reden wir nicht über Geld oder darüber, dass wir kein Geld haben», sagt Lauper. Dennoch sind hierzulande rund 750’000 Menschen von Armut betroffen.

Mann trägt Jacke mit Aufschrift CARITAS
Keystone/Salvatore Di Nolfi

«Ich bekomme einen Kloss im Hals, wenn ich an die vielen weiteren Familien denke, die knapp an der Armutsgrenze stehen. Diese Zahl ist nicht bezifferbar», sagt er.

Lauper findet die prekäre Situation, in der sich viele Familien befinden, «fast schon gefährlich» und macht sich Sorgen, was aus der Frustration der Familien wird, die nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchen.

«Wir reden noch nicht einmal darüber, was im nächsten Jahr passieren wird», sagt er. Es sei damit zu rechnen, dass noch mehr Menschen Hilfe in Anspruch nehmen werden, weil die Einkommen im nächsten Jahr durch die für 2024 geplante Erhöhung der Krankenkassenprämien deutlich stärker belastet werden.

«Reform ist dringend nötig»

Letzte Woche liess der scheidende Gesundheitsminister Alain Berset die Katze aus dem Sack.

«Ich habe schlechte Nachrichten für die Haushalte, die ohnehin schon von der Inflation geplagt sind», sagte er: Die Kosten für die obligatorische Krankenversicherung werden bis 2024 um durchschnittlich 8,7 Prozent steigen.

Vater mit zwei Mädchen am Küchentisch
Keystone/Gaetan Bally

Für eine Familie mit zwei kleinen Kindern bedeute dies eine Erhöhung der Krankenkassenkosten um 1000 Franken pro Jahr, berichtet die Neue Zürcher Zeitung (NZZ).

In der Schweiz können Privatpersonen, die mit den Kosten zu kämpfen haben, einen Antrag auf Verbilligung der Krankenkassenprämien stellen. Die Kantone subventionieren dann die Krankenkassenprämien der Berechtigten.

Wirtschaftsfachleute sind jedoch der Meinung, dass diese finanzielle Belastung der Kantone keine langfristige Lösung darstellt. Derzeit gibt die Schweiz 5,5 Milliarden Franken für die Verbilligung der Krankenkassenprämien aus. Das entspricht dem Budget der Schweizer Armee.

Ein Mann reckt die Faust an einem Protestmarsch
Alamy.com

Tilman Slembeck, Gesundheitsökonom an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), sagte gegenüber Schweizer Radio SRF, ohne die Prämienverbilligung gäbe es in der Schweiz längst einen «Volksaufstand».

Die Kosten der Prämienverbilligung in der Höhe des Armeebudgets zeigten, so Slembeck, dass das Gesundheitssystem in der Schweiz «dringend eine Reform nötig» habe.

«Mangelnde Solidarität»

Von allen Seiten des politischen Spektrums werden Stimmen laut, die sich gegen diese Kostensteigerungen aussprechen. Einige fordern ein staatliches Versicherungssystem, das über Steuern finanziert wird. Für Slembeck kommt dies für die Schweiz nicht in Frage, weil es der Schweizer Kultur widerspreche.

Ein Parlamentarier der Grünen sagt: «Ein Topmanager zahlt die gleichen Krankenkassenprämien wie ein Bauarbeiter. Das ist unsolidarisch.»

Auf der linken Seite des politischen Spektrums, besonders bei den Grünen, wird ein einkommensabhängiges Gesundheitskostenmodell gefordert.

Doch auch das lehnt Slembeck ab, er sieht darin «keinen Nutzen». Es wäre Flickschusterei, würde den Druck von der Regierung nehmen, das Schweizer Gesundheitssystem dringend zu reformieren, und somit das Problem langfristig nicht lösen, sagt er.

Inflation und steigende Mieten

Erschwerend kommt hinzu, dass die Inflation zwar niedriger als in den meisten anderen europäischen Ländern, aber aus Schweizer Sicht immer noch hoch ist und die Mieten derzeit wieder ansteigen.

Der Direktor des Bundesamts für Wohnungswesen erwartet, dass die Mieten bis 2026 um mehr als 15% steigen werden. Die niedrigen Leerstandquoten (von 1,72% im Jahr 2020 auf 1,31% im vergangenen Jahr gesunken) und die wachsende Bevölkerung, welche bald die 9-Millionen-Grenze überschreiten wird, stellen eine zusätzliche Belastung dar.

Obwohl die Inflation von ihrem Höchststand von 3,4% zu Beginn des Jahres auf 1,6% im August zurückgegangen ist, kosten inländische Waren immer noch 2,2% mehr als im Vorjahr.

Ein Einkaufswagen mit Waren drin
Keystone/Salvatore Di Nolfi

Der Rückgang der Inflation macht sich bei der Caritas in Bern nicht bemerkbar. Die Organisation hilft auch mit vergünstigten Lebensmitteln und Haushaltartikeln. Lauper sagt, sein Caritas-Laden im Kanton Bern verzeichne eine Zunahme von 30% bei Familien und Einzelpersonen, die Hilfe suchen.

«Es kommen mehr durchschnittliche Familien mit Kindern in den Laden. Das würde man nicht erwarten», sagt er. Es kämen auch mehr ältere Menschen und Working Poor im Geschäft einkaufen.

Doch nicht nur die Schweiz leidet unter der Inflation. In der Europäischen Union erreichte diese im Oktober 2022 einen Höchststand von 11,5%. Das hatte zur Folge, dass 21,6% der EU-Bevölkerung von Armut bedroht waren.

Lebensmittelladen
Keystone/Lukas Lehmann

Gibt es diesen Winter eine Atempause für die Schweizerinnen und Schweizer? Letztes Jahr wurde wegen der russischen Invasion in der Ukraine ein plötzlicher Anstieg der Energiekosten befürchtet, da ein Grossteil der Gasimporte aus Russland stammt, mit denen die Schweizer Haushalte geheizt werden.

Diesen Winter dürfte die Lage besser sein, sagen Fachleute. Sie warnen jedoch, dass die Schweiz noch viel mehr investieren muss, um eine langfristige Energiewende weg von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien zu schaffen.

+ Mehr dazu: Energienotstand in der Schweiz in diesem Winter?

Vor den eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober werden die Auswirkungen der steigenden Lebenshaltungskosten sicherlich ganz oben auf der Agenda der Wählerinnen und Wähler stehen.

Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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