Nebeneinander oder gegeneinander?
Das Verhältnis zwischen Mundart und Standardsprache ist in der Deutschschweiz seit jeher ein Thema. Eine Forschungsarbeit zeigt die Spracheinstellung gegenüber Dialekt und Schriftdeutsch aus der Sicht von Auslandschweizern.
«Ich habe mich schon als Kind für Sprachen interessiert», sagt Rita Marty gegenüber swissinfo.ch. Fasziniert hat die 28-jährige Schwyzer Germanistin in jungen Jahren auch das Thema «Auswanderung und Umgang mit fremden Kulturen».
Schon als Studentin war sie während mehreren Jahren als Leiterin von Lagern der Stiftung für junge Auslandschweizer (SJAS) aktiv. «Als Linguistin interessierte mich natürlich, wie diese Kinder, die zum Teil keine gemeinsame Sprache haben, untereinander sprechen, sich verständigen – die ganze Thematik der Mehrsprachigkeit.»
Später hatte die Studentin die Möglichkeit, bei der Stiftung eine Stellvertretung zu übernehmen. So erhielt sie auch einen Einblick in die Auslandschweizer-Organisation (ASO).
«Das deckte alle meine Interessen wie Zusammenarbeit mit Menschen, Sprachen, Kulturen ab. Ich musste für meine Lizarbeit nur noch ein Thema finden, das zur Germanistik passte», erklärt Marty. So kam sie auf ‹Mundart und Standardsprache aus der Sicht von Auslandschweizern – Eine Einstellungsforschung›.
Schwierige Probandensuche
Im Zentrum der Lizentiatsarbeit stehen Spracheinstellungen von Deutschschweizern gegenüber der Mundart und dem Standarddeutschen. Verschiedene Untersuchungen hätten festgestellt, dass Deutschschweizer dem Dialekt positiv, der Standardsprache jedoch tendenziell negativ gegenüberstehen.
«Ausgehend von diesem Befund werden hier nicht mehr nur Einstellungen von Inlandschweizern, sondern insbesondere von Auslandschweizern untersucht», heisst es in der Einleitung der Lizarbeit. Dazu brauchte Rita Marty natürlich entsprechende Probanden.
«Ich habe zuerst alle Auslandschweizer, die ich kenne, angeschrieben und auch meine Freunde, die welche kennen, angefragt. Das klappte nicht so gut. Schliesslich habe ich mit Hilfe von Rundmails an die Schweizer Schulen im Ausland und auch mit Hilfe der ASO doch noch genügend Probanden gefunden, die einen entsprechenden Online-Fragebogen ausfüllten.»
Strikte Bedingungen
Bei den Auslandschweizern konnte die Studentin 42 Datensätze auswerten, die meisten aus Lateinamerika. Offenbar seien die Lateinamerikaner motivierter gewesen, «das Schneeballsystem hat da besonders gut funktioniert», meint sie. An zweiter Stelle waren es Leute in Europa, dann noch einige wenige aus Afrika, USA und Ozeanien.
Einige Bedingungen zum Mitmachen: Teilnehmer müssen natürlich ausserhalb der Schweiz wohnhaft sein, jedoch nicht in einem deutschsprachigen Land. Von einer Auslandschweizer Familie müssen mindestens ein Elternteil und ein Kind teilnehmen. Alle müssen Mundart und Hochdeutsch verstehen können. Das Kind darf nie in der Schweiz oder in einem deutschsprachigen Land zur Schule gegangen sein. Die Muttersprache des zweiten Elternteils sollte wenn möglich nicht Deutsch sein.
Generationen-Unterschiede
Bei den untersuchten Auslandschweizern gibt es ganz unterschiedliche Sprachkonstellationen.
«Wenn beide Eltern Deutschschweizer sind, dann wird Mundart gesprochen. Wenn der Vater Chilene und die Mutter Deutschschweizerin ist, dann wird Spanisch gesprochen in der Familie. Die Mutter spricht mit dem Kind allein vielleicht Mundart. Und wenn der Vater Deutsch sprechen will, spricht er Standarddeutsch. Im privaten, emotionalen Kontext wird eher Mundart verwendet», vermutet Marty.
Standarddeutsch und Mundart seien den im Ausland aufgewachsenen Jugendlichen fremder als den Eltern. «Wenn die Jugendlichen ihre Kenntnisse der Schrift- und Dialektsprache einschätzen müssen, beurteilen sie diese als schlechter als jene ihrer Eltern.»
Schweizer Werte hoch im Kurs
Den Bezug zur Heimat Schweiz ihrer Eltern haben die Jungen aber trotzdem sehr stark. Bei der Auswertung habe sich herausgestellt, dass die Schweizer Kultur, die Schweizer Werte und in diesem Rahmen auch die Sprache beim grössten Teil der jungen Probanden von grosser Wichtigkeit seien.
Das «Schweizersein» werde stark gepflegt, mehr als bei den Inlandschweizer-Probanden. «Es gibt Untersuchungen in der Linguistik, die besagen, dass die zweite Generation von Auswanderern, die Secondos, also jene, die im Ausland geboren sind, die Heimatsprache wieder stärker pflegen als ihre Eltern, die ausgewandert sind.»
In ihrer Untersuchung konnte Marty einen solchen Trend allerdings nicht ausfindig machen. «Aufgefallen bei meiner Arbeit mit Auslandschweizern ist mir aber, dass diese zum Teil ein etwas verklärtes, idealisiertes Bild der Schweiz haben, vor allem die Jungen, die nicht hier aufgewachsen sind.»
Grosser Unterschied zu Inlandschweizern
Bei ihrer Arbeit habe sich herausgestellt, dass die Auslandschweizer selbstbewusstere Sprecher des Hochdeutschen seien. «Hier in der Schweiz stellt man fest, dass die Leute gegenüber dem Standarddeutsch komplexbeladen sind.»
Das scheine bei den Auslandschweizern, ob alt oder jung, anders zu sein. Sie schätzten ihre Deutschkenntnisse als besser, gut bis sehr gut ein, obwohl das objektiv nicht unbedingt der Fall sei.
«Obwohl die jungen Auslandschweizer weniger Hochdeutschkenntnisse als Inlandschweizer haben, gibt es bei ihnen weniger Hemmungen, diese Sprache zu sprechen. Der Grund für mich: Die Secondos müssen sich nicht immer vergleichen mit der standarddeutschen Sprache und sie haben eine gewisse geografische Distanz z.B. zu Deutschland, die ihnen erlaubt, diese Hemmungen abzubauen», so Marty.
Auslandschweizer haben kein «Deutschenproblem»
Die Probanden wurden auch zu ihren Sympathien zu den verschiedenen (Deutsch)Sprechergruppen befragt. Dabei kam heraus, dass die Auslandschweizer als Gesamtgruppe die Deutschen markant sympathischer finden als die Inlandschweizergruppe.
«Das ist einer der Hauptbefunde meiner Arbeit, obwohl es nicht unbedingt die Spracheinstellung betrifft. Aber Sprache und Sprechergruppen hängen immer zusammen. Das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den Deutschen ist bei den Auslandschweizern offenbar weniger gross als bei den Inlandschweizern. Und die Auslandschweizer sind allenfalls toleranter, weltoffener», vermutet Marty.
Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch
Rund 8800 Schweizer verlegten 2009 ihren Wohnsitz ins Ausland. Das sind gegenüber dem Vorjahr 1,3% mehr. Damit wohnen derzeit rund 685’000 Schweizer nicht in ihrem Heimatland. Gewachsen ist die Zahl der Auslandschweizer vor allem in Europa (+4946), danach folgen Asien (+1790) und Amerika (+1461).
Prozentual weist Asien mit 4,7% mit Abstand die höchste Zuwachsrate auf, gefolgt von Ozeanien mit 1,5%, Europa mit 1,2%, Amerika und Afrika mit je 0,8%.
Am meisten Auslandschweizer leben heute in Frankreich (179’106), gefolgt von Deutschland (76’565), den USA (74’966), Italien (48’638), Kanada (38’866), Grossbritannien (28’861), Spanien (23’802), Australien (22’757), Argentinien (15’624), Brasilien (14’653), Israel (14’251) und Österreich (14’194).
Nur gut ein Viertel der Auswanderer betätigen sich politisch in ihrem Heimatland: Von über einer halben Million Stimmberechtigten haben sich 130’017 im Stimmregister einer Schweizer Gemeinde eingetragen, um ihr Stimm- und Wahlrecht ausüben zu können.
Geboren 1982 im Kanton Schwyz, in Wollerau aufgewachsen.
Gymnasium in Einsiedeln. Ein Jahr Philosophie-Studium an der Universität Freiburg, dann gewechselt auf Germanistik, Nebenfach Medien- und Kommunikations-Wissenschaften.
Juni 2009 Abschluss des Studiums. Lizentiatsarbeit («Mundart und Standardsprache aus der Sicht von Auslandschweizern») bei Prof. Dr. Helen Christen.
Einige Auslandaufenthalte, mehrmals in Chile (Praktikum bei einem Radio, als Touristin und Arbeit im Schul- und Tourismusbereich), Erasmus-Semester in England.
Seit Ende Januar nach einem halbjährigen Chile-Aufenthalt zurück in der Schweiz.
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