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«Pädophile leben in einer unglaublichen Scham»

Pädophilie ist eine meist dauerhafte Störung der sexuellen Präferenz, so der heutige Wissensstand. Ex-press

Verurteilte Pädophile sollen weder im Beruf noch in einer Freiwilligentätigkeit je wieder Kontakt mit Kindern haben dürfen. Dies verlangt eine Initiative, über die das Schweizer Volk am 18. Mai abstimmt. Interview mit der Psychologin Monika Egli-Alge, die auch mit Tätern arbeitet.

Egli-Alge, die seit 10 Jahren Leiterin des Forensischen Instituts Ostschweiz (Forio) ist, verfasst Gutachten für Strafprozesse und behandelt verurteilte Pädophile. Der grösste Teil ihrer Patienten jedoch sucht freiwillig Hilfe, also ohne zuvor verurteilt worden zu sein. 

swissinfo.ch: Pädophile sind gewissermassen «die Unberührbaren» der heutigen Gesellschaft. Was sind die Folgen dieses Hasses für die Täter?

Monika Egli-Alge: Er hat tragische Auswirkungen. Wer eine solche Störung in der Sexualpräferenz aufweist, getraut sich oft kaum, diese bei sich wahrzunehmen und zu identifizieren. Das ist problematisch, weil sie versuchen, sie zu verdrängen, nach dem Motto «es kann nicht sein, was nicht sein darf».

Diese Menschen leben in einer unglaublichen Scham, müssen sich selbst ganz lange etwas vormachen, vor allem diejenigen die nicht missbrauchen. Das ist eine grosse Gruppe. Sie finden nirgends Hilfe. Die wenigen Angebote, die es gibt, existieren noch nicht sehr lange.

Monika Egli-Alge

Es ist fast nicht möglich, die Scham zu überwinden. Die Stigmatisierung wirkt so stark, dass wir Patienten haben, aus deren Umfeld niemand weiss, dass sie pädophil sind.

Das bedeutet, dass diese Menschen permanent ein Doppelleben leben, also immer unehrlich sein müssen. Das ist ein Zustand, den ein Mensch mit einem normal funktionierenden psychischen Apparat nicht lange aushält.

swisssinfo.ch: Ist Pädophilie eine sexuelle Orientierung? Wie definieren Sie pädophil?

M.E.-A.: Es ist eine Störung der sexuellen Präferenz. Die sexuelle Orientierung dieser Menschen ist auf Kinder oder Jugendliche ausgerichtet und nicht auf gleichaltrige Erwachsene. Diese Orientierung kann deutlicher oder weniger deutlich festgelegt sein und ist in der Regel dauerhaft.

swissinfo.ch: Man konnte lesen, dass wer als Kind missbraucht worden war, mehr gefährdet sei, später selbst Kinder zu missbrauchen. Kann man in der Therapie überhaupt feststellen, was jemanden zu einem Pädophilen gemacht hat? 

M.E.-A.: Gemäss heutigem Stand der Forschung kann man nicht erklären, weshalb jemand pädophil wird oder ist. Es ist nicht klar, ob diese sexuelle Orientierung quasi von Geburt an in jemandem angelegt ist oder wie sie sich im Laufe der ganz frühen sexuellen Entwicklung beim Kind und Jugendlichen entwickelt. Das ist immer sehr individuell. Auch sind nicht alle Pädophile selbst Opfer von sexuellen Übergriffen. Das ist keine bestätigte Korrelation.

Die Initiative, die am 18. Mai 2014 zur Abstimmung kommt, stammt von der Organisation Marche blanche. Dies ist ein Zusammenschluss von Eltern, deren Kindern Opfer von Pädophilen wurden.

Darin wird in der Bundesverfassung ein lebenslängliches Verbot verlangt, dass verurteilte Pädophile nicht mehr mit Kindern oder Jugendlichen zu tun haben dürfen, weder beruflich noch im Rahmen einer Freiwilligentätigkeit.

Weil das Verbot in der Bundesverfassung verankert werden soll, bedarf es in der Abstimmung nicht nur einer Mehrheit der Stimmenden, sondern auch der Kantone (Ständemehr).

swissinfo.ch: Gibt es so etwas wie eine typische Entwicklung hin zum Delikt? Beginnt es mit Exhibitionismus oder dem Konsum von Kinderpornografie? 

M.E.-A.: Nein, überhaupt nicht. Es gibt keine klaren und bestätigten Muster, weder betreffend Lebenslauf noch Deliktkarriere. Diese sind bei Menschen mit Pädophilie sehr individuell. So gibt es Menschen mit pädophilen Neigungen, die niemals sexuelle Übergriffe begehen, weder kinderpornographisches Material konsumieren, noch solches herstellen oder verbreiten.

Es gibt auch kein typisches Muster, wie von Ihnen angedeutet, dass jemand niederschwellig einsteigt, etwa mit dem Konsum von pornographischem Material, und dann später Übergriffe macht. Das wurde untersucht, aber man fand keine gültigen, relevanten Resultate für eine solche Korrelation. Man kann heute also nicht sagen,.»wer Kinderpornographie konsumiert, wird später einmal Kinder missbrauchen».

swissinfo.ch: Also tappt die Forschung im Dunkeln, weil jede pädophil veranlagte Person einen komplett anderen Hintergrund und ein unterschiedliches psychologisches Profil mitbringt? 

M.E.-A.:  Das ist so. Tappen im Dunkeln ist eine Ansichtsweise. Eine andere, mehr psychologische Herangehensweise ist die, dass man jede Situation und jeden Fall individuell betrachten muss. Man kann nicht verallgemeinern, sondern muss immer wieder neu zu verstehen versuchen, welche Faktoren, welche Situationen, welche Persönlichkeitsmerkmale in diesem Einzelfall relevant oder deliktrelevant sind.

2012 wurden in der Schweiz 1203 Personen wegen pädophilen Delikten verurteilt.

Es wird aber angenommen, dass die Dunkelziffer viel höher liegt.

Laut Schätzungen wurden bis 25% der Frauen und 10% der Männer in ihrer Kindheit sexuell missbraucht.

Darin eingeschlossen sind einmalige Vorfälle und Übergriffe ohne Berührungen, z. B. Exhibitionismus.

Zwei Drittel der Opfer sind Mädchen, ein Drittel Knaben.

Am stärksten betroffen ist die Gruppe der 7- bis 12-Jährigen.

swissinfo.ch: Sie arbeiten auch forensisch. Haben die meisten Ihrer Patienten bereits ein Delikt begangen oder arbeiten Sie auch mit Menschen, die ihren Neigungen nie nachgaben? 

M.E.-A.: Beides. Wir haben Patienten aus dem so genannten Hellfeld. Das heisst, sie haben Delikte begangen oder Material konsumiert und sie werden vom Gericht oder von den Strafverfolgungsbehörden an uns überwiesen.

Wir haben aber auch Männer in Behandlung, die noch nie Übergriffe gemacht haben. Sie kamen aus eigenem Antrieb, weil sie diese Neigung an sich festgestellt haben und etwas tun wollen, dass sie keine Kinder missbrauchen. Rund 80% der Patienten, die wir momentan am Forensischen Institut Ostschweiz (Forio) behandeln, haben von sich aus Hilfe gesucht. 

swissinfo.ch: Neigen Pädophile dazu, ihre Delikte zu verharmlosen, um einfacher mit ihnen leben zu können? 

M.E.-A.: Das ist ziemlich typisch für diese sexuelle Präferenzstörung. Wir nennen diese Rechtfertigungshaltung kognitive Verzerrungen. Dieser psychische Mechanismus bringt die Männer dazu, die eigenen Taten zu bagatellisieren und zu rechtfertigen. Dies geschieht mit Ansichten, Einstellungen oder Haltungen zur Tat oder zu den Opfern. Damit werden die Taten und die Schäden minimiert.

Es sind dies sehr problematische Einstellungen, um nicht hinsehen zu müssen, Dinge schön zu reden und sich selbst etwas vorzumachen. Mit Empathie hat das nicht viel zu tun, sondern viel eher mit Kognition.

Fünf wichtige nationale Kinder- und Jugendorganisationen sprechen sich gegen die Pädophilie-Initiative aus. Sie sei unscharf, unvollständig und widerspreche der Bundesverfassung.

In einer am 8. April veröffentlichten gemeinsamen Mitteilung sprachen sich die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV), Jungwacht Blauring, die Pfadibewegung Schweiz (PBS), SATUS Schweiz und die Stiftung Kinderschutz Schweiz für jene alternativen Massnahmen aus, die das Parlament im Dezember angenommen hat und die auf den freiwilligen Bereich ausgeweitet wurden.

Am 9. April kündigte die Regierung an, diese Massnahmen würden ab Januar 2015 gelten.

«Die Initiative erweckt den Anschein, dass sie durch den geforderten Automatismus zu einem vollständigen Schutz vor Sexualstraftäter/-innen führt. Das ist aber nur eine scheinbare Sicherheit: Ersttäter/-innen werden nicht erfasst und es ist tragische Realität, dass nur 5% der Taten in einem Schuldspruch enden», so die Kinder- und Jugendverbände.

«Um einen umfassenderen Schutz vor gewalttätigen Übergriffen gegenüber Kindern und schutzbedürftigen Personen zu gewährleisten, müssen Prävention und Sensibilisierung intensiviert und vom Bund gefördert werden», verlangen die Organisationen.

swissinfo.ch: Genau hier setzen Sie in Ihrer Arbeit an? 

M.E.-A.:  Ja. Ein ganz wichtiger Teil der Behandlung besteht darin, die kognitiven Verzerrungen zu identifizieren, zu analysieren und zu verändern.

swissinfo.ch: Das stereotypische Bild des Pädophilen ist das des unattraktiven Mannes in mittleren Jahren. Wie weit weg ist das von der Realität?

M.E.-A.: Ziemlich weit. Die Zahl der Männer, die wir hier im Forio behandeln, erlaubt zwar keine repräsentativen Aussagen. Aber unser Bild deckt sich mit jenem der internationalen Forschung: Wir haben Männer zwischen 20 und 70 Jahren, die aus allen sozio-ökonomischen Schichten stammen, Verheiratete, deren Partnerin nichts weiss, alleinstehende Männer oder Männer in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Es hat auch Hochqualifizierte, Intelligente, es gibt kein Muster.

swissinfo.ch: Normalerweise gehen Menschen Beziehungen mit Personen aus der eigenen Altersgruppe ein. Das heisst, dass sich die sexuelle Attraktivität mit der Zeit wandelt. Trifft dies auch für Pädophile zu? Oder ist es vielmehr «einmal pädophil, immer pädophil»? 

M.E.-A.:  Es ist genau so. Sexualität kann sich mit der Lebenszeit verändern, wie Sie es geschildert haben. Bei Pädophilen ist es anders, denn es handelt sich um eine Orientierung, eine Störung der Sexualpräferenz.

Wenn 15-Jährige auf 15-Jährige stehen und 50-Jährige auf 50-Jährige, dann stimmt das. Aber wir haben hier ja Erwachsene, die auf Kinder ausgerichtet sind. Das ist nach heutigem Wissensstand nicht veränderbar. Betroffene müssen ihre pädophile Neigung also akzeptieren und dann Strategien entwickeln, wie sie damit umgehen können.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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