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Breiter Konsens: Warum Suizidbeihilfe in der Schweiz normal ist

Entscheid im Sterbezimmer

Frau im Rollstuhl blickt zu einem Fenster hinaus
Aina blickt aus dem Fenster der Lifecircle-Anlage am Stadtrand von Basel. Kaoru Uda/swissinfo.ch

Aina leidet seit Kindheit an einer seltenen neurologischen Störung. Zum Sterben reist die Japanerin nach Basel. Doch die Reise wird zur Prüfung.

Durch einen Strohhalm saugt Aina die Flüssigkeit aus dem Glas. Der Vater drückt ihre Hand. Seine Augen sind rot. Er hält es kaum aus. Aber er zwingt sich, denn wegschauen will er nicht.

Ein Tropfen nur. Bitterkeit breitet sich auf Ainas Zunge aus.

Dann blitzen die Gesichter ihrer Eltern auf, auch die der beiden Schwestern. Ihr Hund. Szenen voller Leben. In ihrem Kopf versammeln sich die Menschen, die ihr immer bedingungslose Liebe gaben und sie beschützten. Sie kann die Flüssigkeit nicht schlucken.

Tränen laufen ihr über die Wangen. Ihre Atmung beginnt zu rasen. Sie hustet.

Das Medikament kann fatal wirken, wenn es nicht in einem Zug geschluckt wird. «Was ist los, Aina?», fragt Ärztin Erika Preisig besorgt. Aina schluchzt. «Ich muss immer an meine Familie denken.»

Keine Therapie schlug an

Aina lebt mit ihren Eltern in der Region Kyushu im Süden Japans. Sie ist ganz von ihrer Mutter abhängig. Beine, die ihr vom Oberschenkel an abwärts nicht mehr gehorchen und Arme, die sie vom Ellbogen an weiter nicht mehr bewegen kann, mit Ausnahme des rechten Handgelenks. Sie kann nicht stehen oder gehen.

Aina ist 30 Jahre alt. Bis 14 hatte sie alle möglichen Behandlungen ausprobiert und den grössten Teil ihrer Zwanziger im Krankenhaus verbracht. Keine Therapie schlug an, und bald sagte ihr der Arzt, dass es keine Hoffnung auf Heilung gäbe.

Smartphone
Das Smartphone ist für Aina neben der Familie fast der einzige Weg, mit der Gesellschaft in Kontakt zu treten. Kaoru Uda/swissinfo.ch

Ainas Krankheit ist nicht lebensbedrohlich, solange sie Medikamente nimmt. Gerade das macht es so schlimm. Anders als bei Krebs im Endstadium gibt es kein Ende, ihre Krankheit führt nirgendwo hin, sie ist einfach da und bleibt.

Und so verhielt es sich auch mit dem Gedanken an den Suizid. Er kam und er setzte sich fest. Nur: Dazu ist sie körperlich gar nicht in der Lage. Und in Japan, wo Sterbehilfe verboten ist, macht sich strafbar, wer einer Person beim Suizid hilft.

Im September 2019 reichte Aina ein Gesuch bei der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Lifecircle ein. Einen Monat später erhielt sie grünes Licht.

Die Krankheit habe «den Lebensplan meiner Eltern durcheinandergebracht», sagt sie fast beschämt. Ihre Mutter musste sich um ihre eigenen Eltern kümmern – und um sie. Ihr Vater, der als Hubschrauberpilot arbeitete, ging mit 53 in Rente, das ist nicht ungewöhnlich bei Piloten. Aber um die hohen Kosten für die medizinische Versorgung stemmen zu können, suchte er eine andere Stelle in der Privatwirtschaft. Er arbeitete bis 67.

«Ohne mich hätten mein Vater und meine Mutter ein anderes Leben gehabt. Sie wären verreist und hätten sich an Hobbys erfreut, ohne finanzielle Belastung.»

Als sie im Februar 2019 ihrer Familie mitteilte, dass sie durch assistierten Suizid sterben wolle, waren alle dagegen. Ihre Eltern konnten den Gedanken nicht ertragen. Sie flehten, Aina möge es sich nochmals überlegen.

Aina aber machte den Termin in Basel ab. Im März 2020 sollte der assistierte Freitod erfolgen. Wegen der Coronavirus-Pandemie musste sie das Datum aber mehrmals verschieben. Ihre Eltern bewegten sich nicht. Sie waren und blieben dagegen.

In den sechs Monaten vor ihrer Reise nach Basel kamen beide Schwestern an jedem Wochenende aus der Nachbarpräfektur zu ihr nach Hause. Sie wollten so viel Zeit wie möglich mit Aina verbringen.

«Ich möchte nicht meinen eigenen Wünschen nachkommen und mich über die Wünsche meiner Familie hinwegsetzen, die sich so sehr um mich sorgt», erzählt sie.

Ihr Wunsch zu sterben blieb unverändert. Aber Aina spürte, wie sie auch den Wünschen der anderen innerlich nachgab.

Im Sommer wurden die Reisebeschränkungen gelockert. Schliesslich sagten ihre Eltern: «Wir können nicht verlangen, dass Du für uns lebst. Wir sind nicht damit einverstanden, aber wir sind auch nicht dagegen.»

Der Tag für den assistierten Suizid wurde auf den 2. September festgesetzt.

Bei ihrer Abreise wurden ihr Vater und sie von ihrer Mutter und zwei Schwestern verabschiedet. Die Mutter weinte. Sie blieb in Japan. Sie könne ihrer eigenen Tochter nicht beim Sterben zusehen.

Bin ich egoistisch?

31. August. Nach einer langen Reise kommt sie in Basel an.

Ärztin Erika Preisig besucht sie im Hotel, sie stellt Aina eine Reihe von Fragen zu ihrer Krankheitsgeschichte und warum sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen wolle. Aina erzählt offen, dass sie sich Sorgen um ihre Eltern mache.

Ärztin und Frau im Rollstuhl
Aina trifft sich mit der Ärztin Erika Preisig (links). Sie stellt ihr viele Fragen zum assistierten Suizid für psychisch Kranke und zur Trauerbegleitung der Familien von Patientinnen und Patienten, die Suizidhilfe in Anspruch genommen haben. Kaoru Uda/swissinfo.ch

Vierzig Minuten dauert das Gespräch. Preisig sagt: «In Anbetracht Ihrer Krankengeschichte und Ihres psychischen Zustands gibt es keinen Grund, ihren Antrag auf Sterbehilfe abzulehnen.»

Aina ist erleichtert. Übermorgen würde sie in der Lifecircle-Einrichtung die tödliche Dosis des Medikaments einnehmen. Das war’s, so denkt sie.

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Erika Preisig

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«Ich will niemanden umbringen»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Erika Preisig, Ärztin und Präsidentin einer Sterbehilfe-Organisation, hat Menschen, darunter auch aus dem Ausland, beim Sterben geholfen.

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Aber sie hatte bemerkt, dass ihr Vater, der mit ihr im Zimmer schlief, still und heimlich weinte. Mitten in der Nacht begann er zu zittern. Sie hielt dann seine Hand.

«Bin ich egoistisch, wenn ich sterben will? Oder sind sie egoistisch, wenn sich mich nicht sterben lassen?»

In der Nacht vor dem Termin findet Aina neben ihrem Vater kaum Schlaf. Seine Angst vor ihrem Tod füllt das einfache Hotelzimmer mit Unruhe.

«Du bist noch nicht bereit dafür»

Am nächsten Morgen warten Aina und ihr Vater an einem Cafétisch in der Hotellobby auf ein Taxi. Stress zeichnet sich ab im Gesicht des Vaters.

In der Lifecircle-Anlage im Kanton Basel-Landschaft angekommen, setzt sich Aina mit Preisig an einen Tisch. Preisig fragt: «Bist Du bereit für das hier?»

«Ich bin mir noch nicht sicher», antwortet sie.

Die Ärztin sieht plötzlich besorgt aus. «Ist es wegen Deiner Eltern? Wenn Du Dir auch nicht sicher bist, ob Du um Deinetwillen sterben sollst, dann solltest Du es nicht tun.»

Tränen fliessen aus Ainas Augen. «Wenn es nur um mich ginge, würde ich auf jeden Fall sterben. Aber ich denke immer nur an meine Eltern.»

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Preisig wendet sich an Ainas Vater und stellt die gleiche Frage. Er sagt: «Wenn sie sterben will, dann muss ich das respektieren.»

Die Diskussion dauert etwa zwanzig Minuten. Doch Aina bricht sie ab. «Ich werde sterben, ich werde es tun.» Sie klettert mit Hilfe ihres Vaters auf die Liege.

Der Vater stellt sich neben sie. Er nimmt die Hand seiner Tochter und lächelt schwach. «Ich respektiere Deine Entscheidung.» Er dankt ihr, dass sie mit ihm gelebt hatte.

Eine Videoaufzeichnung beginnt. Name, Geburtsdatum und Grund des Sterbens. Aina hält ihre Tränen zurück und beantwortet alle Fragen, eine nach der anderen, in die Kamera.

Preisig reicht Aina ein Glas mit einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital. Fünf Jahre hatte sie auf diesen Moment gewartet. Jetzt ist er da.

Sie versucht es nochmals. Sie nippt an dem Strohhalm, aber die Flüssigkeit steigt nicht zum Mund hoch.

Ärztin Erika Preisig sagt: «Du solltest nach Hause zu Deiner Familie gehen. Du bist noch nicht bereit dafür.»

Frau im Rollstuhl in einem Zimmer
Aina wartet in der Wohnung von Lifecircle auf ein Taxi, nachdem sie beschlossen hat, nach Japan zurückzukehren. Kaoru Uda/swissinfo.ch

«Wirklich?» fragt Aina mit weinerlicher Stimme. Preisig antwortet ruhig. «Das willst Du Deinen Eltern nicht antun. Das Schicksal sagt Dir, dass Du noch ein bisschen leben sollst.» Aina sagt «Okay». Ihr Vater umarmt seine Tochter.

Er wird sie zurückbringen, heim.

«Sicher kommt der Tag, an dem ich bereuen werde, dass ich heute nicht gestorben bin», sagt sie.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Kaoru Uda

Inwieweit sollte die Beihilfe zum Suizid für Menschen, die ihr Leben beenden wollen, legal möglich sein?

Die Schweiz hat die Sterbehilfe in den 1940er-Jahren legalisiert. Über 1000 Schwerstkranke oder Behinderte beenden hier jedes Jahr ihr Leben.

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