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«Unser Schutz sind unsere Aktivitäten»

Das IKRK hat diese Wasseraufbereitungs-Anlage modernisiert, um die Kapazität zu erhöhen Ein IKRK-Ingenieur und der Direktor der Anlage am Fluss Tigris bei Bagdad. ICRC/M. Greub

Seit 1980 ist das IKRK ununterbrochen in Irak präsent. Mit einem Jahresbudget von 85 Mio. Franken ist dies nach Afghanistan die zweitgrösste Operation des Komitees. Sorge bereitet nach wie vor die prekäre Sicherheitslage, sagt die IKRK-Delegierte Silvana Mutti.

Bis zum ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak, der 1980 begann und acht Jahre dauerte, war Irak ein hochentwickelter Staat mit bestem Gesundheits- und Bildungswesen. Heute, nach mehreren Kriegen und Konflikten, ist das Zweistromland weit zurückgeworfen, der Aufholbedarf ist enorm, der Wiederaufbau von Infrastruktur und Regierungsstrukturen wird noch Jahre dauern.

Obwohl US-Präsident Barack Obama am 1. September die Mission «Freiheit für Irak» offiziell für abgeschlossen erklärt hat, ist der bewaffnete Konflikt noch nicht zu Ende. Die irakische Bevölkerung leidet noch immer unter Gewalt und Instabilität. Nach wie vor sterben jeden Monat Hunderte Menschen bei Bombenanschlägen, Tausende werden verletzt.

Keine Normalität

Gegenüber den schlimmen Jahren 2006 und 2007 habe sich die Lage aber verbessert, sagt Silvana Mutti, die Verantwortliche für Irak am Hauptsitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf. «Es ist noch kein normaler Zustand, und für die Zivilbevölkerung ist die Lage sehr schlimm. Nach wie vor ist Irak eines der gefährlichsten Länder.»

Allerdings gebe es regionale Unterschiede: «Im Süden ist es besser. Kompliziert ist die Lage in Bagdad und schwierig in den so genannten umstrittenen Gebieten wie Kirkuk oder Mosul, wo es noch nicht klar ist, welcher Autorität diese Regionen unterstellt werden.»

Bei der IKRK-Delegierten, die fast 15 Jahre lang in verschiedenen Krisenregionen wie Tschetschenien, Abchasien, Ruanda oder Kolumbien im Einsatz war, laufen die Fäden zusammen, sie ist quasi die Drehscheibe: «Alles, was an Nachrichten nach Irak geht oder hinaus kommt, läuft über meinen Tisch.»

Die Schweizerin ist verantwortlich für die Evaluierung und Umsetzung der IKRK-Projekte im Land zwischen Euphrat und Tigris, an denen 100 internationale Delegierte und gegen 600 lokale Mitarbeiter beteiligt sind. Mutti war im Jahr 2001 Delegierte in Irak und besucht das Land in ihrer heutigen Funktion dreimal im Jahr. Zum letzten Mal im März 2010.

«Ich war in Erbil, in der autonomen Region Kurdistan, sowie im umkämpften Gebiet von Kirkuk im Norden des Landes, wo ich mir die Sicherheitslage und die Wohnungen der Delegierten angeschaut habe.» Mutti traf auch verschiedene Regierungsmitglieder und besuchte die Büros des IKRKs in Bagdad.

Die tägliche Sicherheits-Analyse

Die Sicherheit der Mitarbeitenden hat hohe Priorität: Häuser, Wohnungen und Büros der Organisation sind nach bestimmten Bedingungen ausgerüstet, damit sie Explosionen standhalten. Und der Kontakt zu wichtigen Gesprächspartnern zielt darauf hin, eine maximale Akzeptanz zu gewährleisten.

«Der beste Schutz sind unsere Aktivitäten», sagt Mutti. «Man weiss, dass wir keine bewaffneten Wächter haben. Wir haben auch keine gepanzerten Fahrzeuge. Das Rotkreuz-Emblem ist unser Schutz.»

Allerdings hat auch das IKRK Todesopfer zu beklagen. Zwischen 2003 und 2005 kamen in Irak fünf Mitarbeiter bei Anschlägen ums Leben. Und am 27. Oktober 2003 wurde der IKRK-Sitz in Bagdad bombardiert und schwer beschädigt. Diese Vorfälle hatten zur Folge, dass das Team im Land reduziert und ein Teil vorübergehend in die jordanische Hauptstadt Amman verlegt wurde.

Die Sicherheitslage wird täglich analysiert. Sollte sich die Lage verschlimmern, würden die nötigen Massnahmen getroffen. «Für einen Rückzug braucht es aber viel», betont die IKRK-Delegierte.

Es fehlt an Spezialisten

Fragil ist aber nicht nur die Sicherheit, es fehlt auch eine politische Stabilität: Ein halbes Jahr nach den Wahlen herrscht in Irak noch immer ein politisches Vakuum, weil sich die führenden Köpfe nicht auf die Bildung einer Regierung einigen können.

Zudem fehlt es dem an Ölreserven reichen Land an fähigen Leuten, die das Land wieder aufbauen helfen. «Sehr viele Spezialisten sind in den verschiedenen Kriegen umgekommen oder haben das Land verlassen. Der Brain-Drain ist ein Riesenproblem, und eine Rückkehrwelle ist keine zu beobachten», so Silvana Mutti.

Das Land braucht internationale Hilfe, um wieder einen gewissen Standard zu erreichen. Existenziell ist für die Bevölkerung der Zugang zu sauberem Trinkwasser. So engagiert sich das IKRK in über 100 Projekten für die Wasseraufbereitung und bildet irakische Ingenieure aus, damit der Unterhalt der Anlagen gewährleistet ist.

Auch im Gesundheitswesen ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz aktiv. Neben der Unterstützung von Spitälern und Rehabilitations-Zentren sowie der Verteilung von medizinischem Material wurden Hunderte Ärzte und Krankenpfleger für die dringende Nothilfe ausgebildet.

Schutz und Achtung der Häftlinge

Ein weiterer Schwerpunkt ist der Besuch von Gefangenen. Seit 2003 hat das IKRK rund 70’000 Gefangene und Internierte besucht. Die meisten wurden unter amerikanischer Aufsicht gefangen gehalten, und der grösste Teil von ihnen inzwischen entlassen oder der irakischen Regierung übergeben.

Seit den 1990er-Jahren werden auch Gefangene im kurdischen Teil besucht, und seit Ende 2007 auch Häftlinge, die sich in den Händen der irakischen Regierung befinden.

Wichtig ist auch der Kontakt der Gefangenen zu ihren Familien. In Zusammenarbeit mit dem irakischen Roten Halbmond konnten Zehntausende Rotkreuzbotschaften zwischen Häftlingen und ihren getrennten Angehörigen ausgetauscht werden.

«Der Zugang zu den Gefängnissen ist je nach Region aus Sicherheitsgründen schwierig. Kompliziert ist es auch, weil die Gefangenen von verschiedenen Ministerien gehalten werden, vom Justiz- und vom Verteidigungsministerium, vom Ministerium des Innern und jenem für Arbeit und Sozialordnung. Es ist eine kontinuierliche Networking-Arbeit», erklärt Mutti.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist seit 1980, dem Beginn des Iran-Irak-Kriegs, in Irak tätig.

Das Budget 2010 beläuft sich auf 85 Mio. Franken.

Nur in Afghanistan ist die Operation noch grösser (87 Mio. Franken).

Im Irak sind 100 internationale IKRK-Delegierte tätig und gegen 600 lokale Mitarbeiter.

Das IKRK arbeitet eng mit dem irakischen Roten Halbmond zusammen, einer Schwestergesellschaft.

Zu den Tätigkeiten des IKRKS gehört die Verteilung von Nahrungsmitteln und Hygieneartikel und die Bereitstellung von Saatgut.

Es spricht Mikrokredite für die Realisierung wirtschaftlicher Kleinstprojekte.

Es unterstützt Spitäler und Reha-Zentrum und unterstützt die Weiterbildung von Ärzten und Krankenpflegern.

Das IKRK besucht Gefangene und Internierte und ist aktiv in der Wiederherstellung der Kontakte zu Familienangehörigen.

Kriegsbeginn: 20. März 2003 – ohne UNO-Mandat

31. August 2010 Abzug der US-Kampftruppen

50’000 US-Soldaten bleiben bis Ende 2011

Kosten für die USA: gegen 1 Billion Dollar

Einsatz von insgesamt 1,5 Mio. US-Soldaten

112’600 tote irakische Zivilisten

9500 tote irakische Soldaten und Polististen

4416 tote US-Soldaten

141 getötete Journalisten

Bis Juni 2010 mindestens 2160 Terroranschläge

Dabei wurden knapp 20’400 Menschen getötet und 43’700 verletzt.

Seit 2003 312 verschleppte Ausländer, 60 von ihnen wurden getötet, 149 kamen wieder frei.

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