Vom Kasernenmief zu Komfort und Nachhaltigkeit
Mitte der 90er-Jahre steckten sie in einer tiefen Krise, heute sind sie moderne und günstige Anbieter im Tourismus-Angebot: die Schweizer Jugendherbergen. Eine Gratwanderung zwischen Design, Komfort, Kulinarik und Kultivieren des Einfachen.
Die Eingangshalle ist geräumig, das Mobiliar in modernem Design strahlt Charme aus, Flat Screen TV, Billard und Tischfussball sorgen für Abwechslung. Eine Bar lädt zu Drinks und Snacks ein, ein Blick auf die Menukarte lässt auf eine abwechslungsreiche Küche schliessen, die auf regionale und fair hergestellte Produkte achtet. Im grosszügigen Innenhof geniessen ein paar Gäste die Frühlingssonne.
Wir befinden uns in der Jugendherberge Zürich, die heute als eine der modernsten der Welt gilt. Die unterschiedlich grossen Zimmer – vom Doppel/Einzelzimmer mit Dusche/WC bis zum Sechserzimmer – sind hell und geräumig. Und in zehn Minuten erreicht man zu Fuss das Ufer des Zürichsees.
Am Abgrund
Vor mehr als 15 Jahren war das ganz anders: Die Schweizer Jugendherbergen standen am Abgrund – massiver Besucherrückgang, Millionenverluste. 1996 wurde der frühere Kurdirektor von Savognin, Fredi Gmür, neuer Chef der Schweizer Jugendherbergen.
«Die grosse Herausforderung war, die Jugendherbergen aus dieser Sackgasse in die Zukunft zu führen, neu zu positionieren», sagt Gmür gegenüber swissinfo.ch. «Das haben wir einerseits gemacht, indem wir Betriebe, die von der Nachfrage her nicht mehr interessant waren, geschlossen haben. Andererseits haben wir versucht, unser Image zu verändern, weg von den Massenlagern hin zu Gäste orientierten Unterkunfts-Möglichkeiten.»
Vom Kasernenverwalter zum Gastgeber
Weg vom Kasernen-, Birkenstock-, Wolldecken-Image: Kein leichtes Unterfangen für den neuen Jugi-CEO.
Kurz nach seiner Anstellung organisierte er eine interne Weiterbildung für Betriebsleiter. «Ich habe da klargemacht, dass Gäste, die ihre schönsten Tage im Jahr bei uns verbringen wollen, nicht primär eingeschränkt, sondern mit einem freundlichen Lächeln, mit Gastfreundschaft aufgenommen werden möchten.»
An dieser Tagung unter dem Motto «Vom Kasernenverwalter zum Gastgeber» sei zu Beginn Unmut spürbar gewesen. Aber mit der Zeit habe jeder einzelne Mitarbeiter gemerkt, dass die Arbeit auch Spass machen kann, «wenn man dem Gast nicht sagen muss, was er nicht darf, sondern ihm sagen kann, was er darf, ihm Dienstleistungen erbringt und ihm Freude bereitet», so Gmür.
Neues Zielpublikum
Mehr Komfort, mehr Design, mehr Kulinarik: Das bieten heute zahlreiche Schweizer Jugendherbergen an, wie in der Jugendherberge Zürich beim Gespräch mit CEO Gmür eindeutig zu sehen ist. Schreckt das aber nicht Jugendliche ab, die «einfache» Ferien machen wollen?
Mit der Neupositionierung werde ganz bewusst ein neues Zielpublikum angesprochen, sagt Gmür dazu. «Familien, aber auch Jugendliche, deren Qualitätsanforderungen heute gestiegen sind. Das Massenlager gehört der Vergangenheit an. Und auch ein Vollangebot der Küche wird heute von den Gästen gewünscht.» Preislich sei man im Vergleich zu gleichwertigen Angeboten vor Ort immer noch sehr kostengünstig.
Weniger Jugendliche, mehr Ältere
Der Anteil der 20- bis 30-Jährigen, die heute in der Schweiz Jugendherbergen besuchen, ist nicht mehr so gross wie früher. Dagegen hat sich der Anteil der über 45-Jährigen in den Jahren 2007-2009 um 50% erhöht.
Im Winter habe man eine altersmässig ausgeglichene Gästeschicht, sagt Gmür. Im Sommer spiele die erweiterte Mobilität eine Rolle. «Gerade die Jugendlichen gehen in den Sommermonaten ins Ausland, die Schweiz ist nicht ihr Traumziel. Familien hingegen sind im Sommer sehr häufig Gäste in unseren Jugendherbergen.»
Es gebe aber immer noch viele jugendliche «Backpackers», die vor allem aus dem Ausland kämen, so Gmür. «Gäste, welche die Schweiz erleben wollen, im Rahmen einer Europareise. Die bevorzugen die Jugendherbergen in den Städten, wo die Kulturevents stattfinden.»
Nachhaltigkeit im Zentrum
Für Fredi Gmür war von Beginn seines neuen Jobs an klar, dass die Jugendherbergen nur mit einer nachhaltigen Strategie aus der Sackgasse geführt werden können.
«Wir verstehen Nachhaltigkeit als Ganzes: Gegenüber unseren Mitarbeitenden nehmen wir soziale, gegenüber der Unternehmung ökonomische und mit baulichen und betrieblichen Massnahmen ökologische Verantwortung wahr.»
Im schweizerischen Tourismus-Angebot sieht sich Jugi-CEO Gmür als einen der namhaften Anbieter, «obwohl wir mit knapp einer Million Übernachtungen gegenüber einer Hotellerie mit rund 35 Millionen Übernachtungen kein Vergleich sind. Aber wir sind eine Alternative».
Grundgedanke immer noch präsent
Jugendherbergen sind vor 101 Jahren in Deutschland gegründet worden, von einem Lehrer, der den Auftrag erhielt, Jugendliche zu beschäftigen. Und das Beschäftigungsprogramm waren Wanderungen. Plötzlich stellte man fest, dass man nicht jeden Tag dieselbe Wanderung machen kann. Deshalb wurden Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen, und das wurden kulturelle, soziale Austauschorte von Jugendlichen.
1924 gründeten rund 70 Vertreter von Jugendverbänden, von der «Abstinenten Jugend», der «Pro Juventute» bis zu den «Wandervögeln», in Zürich die «Zürcherische Genossenschaft zur Errichtung von Jugendherbergen».
Haben die heutigen Schweizer Jugendherbergen noch etwas gemeinsam mit der Idee der Gründungsbewegung? «Ja, ganz bestimmt», sagt Fredi Gmür. In den 87 Jahren habe sich zwar viel verändert, eine Jugendherberge sehe heute anders aus. «Aber der Grundgedanke ist geblieben. Auch die heutigen Jugendherbergen haben einen sozialen, kulturellen Teil im Angebot. In den Jugendherbergen sind die Gemeinschaftsräume sehr offen gestaltet, damit man sich treffen, kulturell austauschen kann.»
CEO-Gmür macht selber gerne Ferien in seinen Jugis, vor allem mit seiner kleineren Tochter. «Sie geniesst es, da andere Kinder anzutreffen und sich als Kind zu fühlen, ohne dass es jemanden stört.»
Die Schweizer Jugendherbergen verfügen über 56 Betriebe, verteilt übers ganze Land, und 443 Angestellte (257 Vollzeitstellen). Die meisten Jugis bieten Vierer- und Doppelzimmer an. Für eingecheckte Gäste sind sie rund um die Uhr offen. Altersbeschränkungen gibt es keine, und die Mithilfe der Gäste in den Betrieben ist Geschichte.
Eine Übernachtung mit Frühstücksbuffet kostet je nach Zimmerkomfort zwischen 29 und 40 Franken. Ein dreigängiges Hauptmenu kostet zwischen 15 und 17 Franken.
Die Marke Schweizer Jugendherbergen steht nach eigenen Angaben für «einen preisgünstigen Anbieter, der Wert legt auf Qualität und sozial-verantwortlichen und umwelt-verträglichen Tourismus fördert».
Gegenüber dem Vorjahr ist die Belegung der Jugendherbergen in der Schweiz 2010 praktisch konstant geblieben. Nach der jüngsten Jahresübersicht des Bundesamts für Statistik (BFS) verzeichneten die 56 Jugendherbergen in der Schweiz total 939’000 Logiernächte (-0,8%). Mit einem Minus von 8,5 beziehungsweise 8,1% mussten das Wallis und Graubünden die grössten Einbussen hinnehmen.
58% oder 545’000 Übernachtungen (-1,5%) gehen auf das Konto der Schweizer Klientel. Die ausländischen Gäste erreichten mit 394’000 Logiernächten eine leichte Zunahme um 0,2%.
Deutsche stehen mit 141’000 Einheiten (+0,1%) an der Spitze der Liste ausländischer Gäste. Es folgen Frankreich und Grossbritannien mit 29’000 (+7,2%) beziehungsweise 26’000 Einheiten (+1%). Schweizweit lag die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei 2 Nächten.
2007 erhielt die Jugendherberge Zürich im Rahmen des vom International Council on Monuments and Sites (Icomos) verliehenen Preises «Das historische Hotel des Jahres 2008» eine Spezialauszeichnung für «einen bewussten und gelungenen Umbau eines Baus aus den 1960er-Jahren».
Die Jugi Zürich hat für Fredi Gmür, CEO der Schweizer Jugendherbergen, Vorzeigecharakter. Dies einerseits von der aus den 1960er-Jahren stammenden Architektur her, geschaffen vom renommierten Architekten Ernst Giesel. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz und für den Stil «Brutalismus».
Man habe versucht, die moderne Interpretation, die Bedürfnisse des heutigen Gastes in dieses historische Gebäude zu integrieren, so Gmür. Die Jugendherberge Zürich gelte heute als eine der modernsten der Welt.
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