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«Wir sind Retter, nicht Richter»

Bei den Lawinen-Niedergängen im Diemtigtal kam auch ein Rega-Arzt ums Leben. pkb

Das Lawinenunglück im Berner Oberländer Diemtigtal vom Sonntag hat insgesamt sieben Todesopfer gefordert, darunter auch einen Rega-Arzt. Dass auch ein Retter zum Opfer wird, ist höchst ungewöhnlich. swissinfo.ch sprach mit Bruno Jelk, Rettungschef von Zermatt.

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Rettungsflugwacht (Rega), dass sie bei einem Lawineneinsatz den Verlust eines eigenen Mitglieds zu beklagen hat. Seit der Rega-Gründung 1952 ist es der siebte Tote bei Rega-Einsätzen.

swissinfo: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Tod des Rega-Kollegen im Diemtigtal hörten?

Bruno Jelk: Für uns ist das eine tragische Sache, wenn Retter bei einem Einsatz umkommen – das Schlimmste, was überhaupt passieren kann.

Es ist das zweite Mal in diesem Winter, dass so etwas vorkommt. Im italienischen Südtirol kamen vier Retter ums Leben.

swissinfo: Macht Ihnen das nicht Angst für künftige Einsätze?

B.J.: Angst darf man nicht haben, das wäre fehl am Platz. Man muss Respekt haben vor dem Ganzen.

swissinfo: Gibt es für Sie als Retter Grenzen, die einen Einsatz nicht mehr erlauben?

B.J.: Ja, die gibt es. Man darf aus einem Unfall keinen zweiten machen. Wir sind mehrmals ausgerückt, auch im Sommer, zu Fuss. Unterwegs mussten wir abbrechen, weil das Risiko einfach zu hoch war.

Ausrücken sollte man immer, aber man muss den Mut haben, unterwegs abzubrechen. Irgendwann sind auch für uns Grenzen da, und die sollte man nicht überschreiten.

Es sind vor allem Wetter- und Sichtverhältnisse. Letzten Winter vermissten wir auf einem Gletscher sechs Alpinisten. Wir rückten in der Nacht aus, mussten aber umkehren, weil das Risiko viel zu gross war für die Retter.

swissinfo: Was geht da in einem vor, das ist ja quasi das Todesurteil für diese Menschen in Not?

B.J.: Glücklicherweise haben die Alpinisten überlebt. Wichtig ist, dass man immer sagen kann, wir haben das Maximum versucht, mehr ist einfach nicht möglich gewesen.

swissinfo: Nun gibt es ja auch selbstverschuldete Notfälle, Leute, die sich über Regelungen, Markierungen, Sicherheitsbestimmungen hinwegsetzen. Mit welcher Motivation handelt man da, wenn man sein eigenes Leben zur Rettung unverantwortlicher Leute einsetzen muss?

B.J.: Wir sind Retter, nicht Richter. Unsere Aufgabe ist es, Leuten zu helfen, die in Schwierigkeiten sind. Ob sie einen Fehler begangen haben oder nicht, ist eigentlich nicht unser Problem. Wir müssen einfach unsere eigene Sicherheit hoch halten.

Wenn einer über felsigem Gebiet abstürzt und seine Überlebenschance zu 99,9% gleich null ist, reduzieren wir unseren Einsatz dann schon. Wenn er aber überleben könnte, ob er nun einen Fehler gemacht hat oder nicht, dann müssen wir versuchen, ihm zu helfen. Es nützt uns nichts, wenn wir sauer auf unverantwortliche Leute sind.

Natürlich habe ich ein Problem, wenn Leute trotz Warnungen von Hüttenwarten, Bergführern, vor allem im Sommer, trotzdem auf Touren gehen. Es gibt schon irgendwo eine Grenze, wo man sagen muss, was soll das Ganze noch?

swissinfo: Nehmen die Leute dank technischen Verschütteten-Suchgeräten (Barryvox), Notsendern oder Handys heute mehr Risiken in Kauf?

B.J.: Es gibt da zwei Aspekte. Diese technischen Geräte haben einen Riesenvorteil, weil dadurch viele Leute gerettet werden können. Viele Leute wären tot, wenn sie diese Geräte nicht bei sich gehabt hätten. Heute kommen zum Beispiel 80% der Alarmanrufe via Handy. Wir wissen, was und wo etwas passiert ist.

Der Nachteil ist, dass die Leute tatsächlich mehr Risiko in Kauf nehmen. Vor allem im Sommer ziehen die Leute los, ohne gross auf die Wetterentwicklung zu schauen. Und wenn es nicht mehr geht, telefonieren sie uns einfach übers Handy.

Da haben wir ein Problem: Wir müssen abwägen, wie gross die Gefahr für die Leute ist. Haben sie einen Unfall, oder sind sie, wie meistens, nur blockiert. Dieses Abwägen, auch zu unserer Sicherheit, verzögert dann die Rettung.

swissinfo: Gab es für Sie auch schon einen «Worst case», bei dem Sie an Ihre Grenzen kamen?

B.J.: Solche Fälle hat es bei mir schon mehrmals gegeben, oft gerade bei ’normalen› Rettungen. Plötzlich kam es zu Zwischenfällen. Einmal geriet ich in einen Steinschlag und landete dann im Spital. Ein ander Mal wollte ich mich mit dem Karabiner an einer Seilbahn anhängen, als dieser brach. Ich konnte mich noch gerade am Türgriff der Kabine halten, sonst wäre ich 130 Meter abgestürzt.

Solche Fälle ereignen sich aber meistens unvorhergesehen. Es gibt auch in anderen Berufen unkalkulierbare Risiken, aber mit denen muss man einfach leben.

swissinfo: Wer bezahlt die Rettungskosten, wenn die Leute jenseits der markierten Pisten und Routen waren?

B.J.: Wenn jemand einen Unfall hatte oder verursachte, erhält er von uns die Rechnung und muss die Sache mit seiner Versicherung abklären.

Wenn sich Leute durch Fehlverhalten selber oder vor allem andere gefährden, ist das heute schon ein Thema. Zum Beispiel werden jetzt drei Variantenskifahrer, die im Wallis abseits der markierten Piste eine Lawine ausgelöst haben, angezeigt. Die Schneemassen hatten zwei Skifahrer mitgerissen, die auf der markierten Piste unterwegs waren, wovon einer verletzt geborgen werden musste.

Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wie die Richter in solchen Fällen dann entscheiden. Aber jedenfalls muss man da über die Bücher.

swissinfo: Wer haftet im Fall des tragischen Todes des Rega-Arztes?

B.J.: Das ist natürlich Schicksal. Der Rega-Arzt hat seine Pflicht getan, dann kam diese Nachlawine. Mehr kann ich nicht sagen. Da ist das Schicksal grösser als die Haftung.

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch

Laut dem Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) liegt die Zahl der Lawinentoten in der Schweiz im langjährigen Durchschnitt bei 25. Im vergangenen Winter waren es 28, im Jahr zuvor elf.

In den letzten 15 Jahren stellte das SLF wegen besserer Materialien und erfolgreicherer Kameradenrettung einen Trend zu eher weniger Toten fest.

Mit dem Lawinenunglück im Diemtigtal ist die Zahl der Lawinenopfer in dieser Saison bereits auf insgesamt acht gestiegen. In der Wintersaison werden jeweils bis Anfang Januar im langjährigen Durchschnitt 3,7 Lawinentote registriert.

Die Schweizer Gesetzgebung erlaubt die Bestrafung von Skifahrern, die ausserhalb der gekennzeichneten Pisten unterwegs sind und dadurch eine Lawine auslösen. Ungesetzlich ist es jedoch nicht, abseits Ski zu fahren.

Ein ‹Freerider› könne nicht daran gehindert werden, die markierten Pisten zu verlassen, sagt der auf solche Fälle spezialisierte Walliser Anwalt Pierre-André Veuthey. Sobald ein Skifahrer in eine gefährliche Zone eindringe, könne er jedoch wegen Störung des öffentlichen Verkehrs belangt werden.

Zu einer Verurteilung kann es laut Veuthey auch dann kommen, wenn eine vom Betreffenden ausgelöste Lawine keine Opfer fordert. Der Umstand, eine gefährliche Situation herbeigeführt zu haben, ist ausreichend.

Für die Sicherung und Markierung sowohl der präparierten als auch der nicht präparierten Pisten sind die Bergbahnen zuständig, wie Téléverbier-Direktor Eric Balet sagt. Wer eine markierte Piste verlasse, verlasse die befahrbare Zone.

Skifahrer am Ausscheren zu hindern, sei jedoch nicht möglich, sagte auch Balet. Die Bergbahnen müssten sich auf Warnungen und Absperrungen beschränken. Der Einsatz von Polizeibeamten sei nicht geplant.

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