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«In den höheren Schichten ist das Patriarchat subtiler»

Regisseurin Nadia Fares
Der Hinterhof in Solothurn kommt ein wenig daher wie ein Strassenkaffee in Kairo, nur viel kälter ist es. Thomas Kern/swissinfo.ch

Im Dokumentarfilm "Big Little Women" erzählt die schweizerisch-ägyptische Regisseurin Nadia Fares die Schicksale ägyptischer Frauen und spiegelt ihre Geschichten auch am Schweizer Patriarchat.

Frau-Sein wird in Ägypten unterschiedlich gelebt: Manche Frauen demonstrierten während des arabischen Frühlings auf dem Tahrir Platz in Kairo, sie behandeln als Ärztinnen Patient:innen oder sorgen als Uber-Fahrerinnen dafür, dass ihre Kundschaft pünktlich ans Ziel kommt. Andere ziehen viele Kinder auf, verlassen das Haus nicht ohne Schleier und setzen alles daran, ihre Töchter vom Heiraten zu überzeugen.

Gemeinsam haben sie, dass sie sich in einem patriarchalen System bewegen und sich darin in unterschiedlichen Rollen behaupten müssen. Das mag westliche Leser:innen wenig überraschen. Doch wer stellt sich diesem Rollenzwang entgegen? Gibt es einen ägyptischen Feminismus?

Die ägyptisch-schweizerische Regisseurin Nadia FaresExterner Link geht dieser Frage in ihrem Film «Big Little WomenExterner Link» nach, der dieses Jahr an den Solothurner Filmtagen gezeigt wird und für den Prix de Soleure nominiert ist. Drei Generationen von ägyptischen Feministinnen kommen im Film zu Wort, die von ihren Familien und ihrem Aktivismus erzählen. Sie will mit dem Film «den Mut aller Frauen würdigen, die im Osten und im Westen für die Gleichberechtigung kämpfen». Eine der feministischen Stimmen im Film ist die der Regisseurin selbst.

Nadia Fares
Nadia Fares träumt zusammen mit ihren Protagonistinnen von Unabhängigkeit und Freiheit. Thomas Kern/swissinfo.ch

«Ägypten ist eine klassenbasierte Gesellschaft. In niedrigeren Klassen hat der Mann das letzte Wort, egal ob er recht hat oder nicht», erzählt Fares. In den benachteiligten Vierteln Kairos, die der Film zeigt, haben Frauen heute zwar die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen oder ihre Meinung zu äussern – zum Beispiel darüber, wen sie heiraten möchten. Aber sie können ohne die Erlaubnis ihres Vaters oder Ehemanns nicht allein wohnen oder ihr Kopftuch ablegen. «In den mittleren und höheren Schichten ist das Patriarchat viel subtiler, es kommt jedoch auch hier zum Ausdruck,» sagt die Regisseurin.

Ägyptischer Feminismus

Aber «Big Little Women» zeigt auch junge Frauen, die andere Visionen haben – eine Generation, die sich nicht binden und keine Kinder haben möchte. Sie träumen davon, die Welt zu bereisen und sehnen sich nach finanzieller Unabhängigkeit.

ist eine Schweizer Regisseurin mit ägyptischen Wurzeln, geboren in Bern. Sie ist als Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin in Genf, Los Angeles und Kairo unterwegs. Ihr erster Spielfilm «Honey and Ashes» (1996) wurde international als eine bahnbrechende Darstellung zeitgenössischer arabischer Frauen gelobt. Ihr Drehbuch «Diplomatic Corps» wurde 2018 in das New York Writers Lab aufgenommen, unterstützt von Meryl Streep und Nicole Kidman. «Big Little Women» ist ihr erster Dokumentarfilm.

Nouran Salah, Noha Sobh und Amina Alwahany sind die Protagonistinnen dieses Films, drei junge Frauen der jüngsten ägyptischen feministischen Generation. Fares filmt sie, wie sie auf den Strassen Kairos unterwegs sind, mit dem Fahrrad, wie sie Frauen in Gespräche verwickeln und mit ihnen über ihre Situation, ihre Rechte und die Freiheit sprechen.

In den Gesprächen kommt die Dominanz der Männer deutlich zum Vorschein – aber gleichzeitig zeigen sich die Frauen auch in den ärmsten Gegenden entschlossen, sich nicht unterwerfen zu lassen. Sie erklären den Fahrradfahrerinnen, dass kein Mann es wagen würde, sie zu beleidigen oder sexuell zu belästigen, denn «wir sind männlicher als jeder Mann da auf der Strasse».

Die Fahrradfahrerinnen führen auch Diskussionen mit ihren eigenen Familien, vor allem mit ihren Vätern, was ein Zeichen dafür ist, dass sie eine gewisse Freiheit erlangt haben: Sie widersprechen Männern und stellen deren Autorität infrage.

Als Vertreterin eines älteren Feminismus spricht Nawal El Saadawi im Film, die 2021 verstorbene Pionierin des Feminismus im gesamten Nahen Osten. Sie erzählt von ihren eigenen Erfahrungen, wie sie sich als Frau befreien konnte und welchen Preis sie dafür zahlen musste. Sie berichtet von ihrer Inhaftierung und ihrem Exil.

«Bis zu ihrem letzten Atemzug hat El Saadawi ihre Energie in den Kampf gesteckt und sich bemüht, ihren Kampfgeist an die jungen Frauen von heute in Ägypten, aber auch in anderen Ländern weiterzugeben,» so Fares. El Saadawi hatte sich seit den Siebzigerjahren für die Rechte der Frauen in Ägypten und im arabischen Raum eingesetzt und «insbesondere auch gegen die Unterdrückung der Sexualität», erklärt Fares.

Nach Ansicht von Fares besteht ein deutlicher Unterschied zwischen dem Aktivismus von El Saadawi und dem der jüngeren Feministinnen in Ägypten.

Der «coole Patriarch» als Opfer

El Saadawi erklärt im Film auch, wie sich Männer selbst den Verhaltensnormen anpassen müssen, die die Gesellschaften des Nahen Ostens den Ehemännern und Vätern in der Region auferlegen. Ein Mann, der seine Frauen und ihre Töchter nicht kontrollieren kann, setzt sich der Verachtung oder dem völligen Ausschluss aus der Gesellschaft aus.

«Big Little Women» ist auch eine Hommage an den verstorbenen ägyptischen Vater der Regisseurin, den sie am Ende des Films als «coolen Patriarchen» bezeichnet. Das Schicksal ihres ägyptischen Vaters, der eine Schweizer Frau – ihre Mutter – heiratete, dient dem Film als Spiegel, der nicht vergessen lässt, dass das Patriarchat auch eine Schweizer Angelegenheit ist.

Im Pressezentrum Nadia Fares
Die Regisseurin im Gespräch mit swissinfo.ch im Pressezentrum des Filmfestivals Solothurn. Thomas Kern/swissinfo.ch

So war der Schweizer Grossvater der Regisseurin dagegen, dass ihre Mutter einen Ägypter heiratete. Er konnte es ihr nicht verbieten, aber sorgte dafür, dass ihr Vater das Land und seine Familie verlassen musste. «Mein Vater wurde Opfer eines Schweizer Patriarchen, denn es war mein Grossvater, der den Plan ausgeheckt hat, meinen Vater von den Behörden nach Kairo zurückschicken zu lassen», erzählt Fares. Anhand ihrer eigenen Geschichte und der ihres Vaters, zeigt Fares auch eine zweite Seite des Patriachats: Sie verdeutlicht, wie auch Männer Opfer dieses Systems werden.

Auch in der Schweiz von heute sei das Patriarchat immer noch sehr präsent, sagt Fares. «Zum Beispiel ist die Lohnungleichheit immer noch ein Problem in der Schweiz. Die Solidarität zwischen Männern ist immer noch stärker ausgeprägt und nicht die über Geschlechtergrenzen hinweg. Auch in meinem Beruf als Regisseurin: Weibliche Filmemacherinnen sind zwar akzeptiert, aber wir müssen immer noch mehr um unsere Glaubwürdigkeit kämpfen als Männer. Grössere Budgets werden eher an einen Mann als an eine Frau vergeben. Das Patriarchat ist in Europa genauso präsent wie in Ägypten, auch wenn es sich anders ausdrückt.»

war eine ägyptische Feministin, Autorin, Ärztin und Aktivistin, die sich seit den 1970er Jahren für die Rechte von Frauen in Ägypten und im arabischen Raum eingesetzt hat.

El Saadawi hat mehrere Bücher und Artikel veröffentlicht, in denen sie die Unterdrückung von Frauen in Ägypten und im arabischen Raum anprangert und ihre Ansichten zur Gleichstellung der Geschlechter darlegt. Sie hat auch eine Organisation gegründet, die sich für die Rechte von Frauen in Ägypten einsetzt und Frauen in ländlichen Gebieten unterstützt.

El Saadawi hat für ihre Arbeit viel Kritik und Drohungen erhalten, insbesondere aus konservativen und religiösen Kreisen. Sie hat jedoch ihre Arbeit fortgesetzt und war eine wichtige Stimme im ägyptischen und internationalen Feminismus.

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