Alexander Solschenizyn gestorben
Der russische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Der bekannteste Regimekritiker der Sowjetunion wurde 1974 ausgebürgert und verbrachte danach zwei Jahre in der Schweiz.
Am 15. Februar 1974 traf Alexander Solschenizyn in Zürich ein, am 29. März folgte ihm seine Familie nach. Der Empfang war überwältigend: Die Schweiz fühlte sich geehrt, dass das «Gewissen Russlands» hier Wohnsitz nehmen wollte.
«Ist es nicht bemerkenswert, dass sich der grosse russische Schriftsteller für unser Land entschieden hat, das für so manche einheimische Literaten nur noch Zielscheibe einseitiger, verquälter Kritik ist?» fragte damals die Neue Zürcher Zeitung mit Genugtuung.
In einem Interview sagte Solschenizyn, er wolle «für lange Zeit» bleiben. Diese basisorientierte, international wenig exponierte Demokratie gefalle ihm gut, die Sprache Deutsch beherrsche er seit seinen Schulzeiten.
Die «lange Zeit» in der Schweiz dauerte nur zwei Jahre. 1976 zogen die Solschenizyns nach Cavendish im US-Bundesstaat Vermont: Dort waren das Land weiter, die Winter kälter und vor allem die Ruhe tiefer. Die Einwohner von Cavendish schirmten die prominenten Mitbürger ab, am Dorfladen hing ein Schild: «Keine Angaben über den Weg zu Solschenizyns Haus.»
Erinnerungen an die Landsgemeinde
Ganz anders war es den Geflüchteten in der Schweiz ergangen. Schon Solschenizyns Ankunft am 15. Februar war tumultuös: Ein Heer internationaler Presseleute belagerte den Ausgewiesenen bei seiner Ankunft.
Noch mehr Presseleute zertrampelten später die Nachbargrundstücke des Hauses Stapferstrasse 45, das die Solschenizyns von der Stadt Zürich mieten konnten. «Macht, dass ihr fort kommt», schrie ihnen der Hausherr zu.
Laut seinem Genfer Übersetzer Georges Nivat hatte Solschenizyn in der Schweiz aber auch gute Erlebnisse. Ein Besuch an der Appenzeller Landsgemeinde soll ihm speziell im Gedächtnis geblieben sein.
Solschenizyn war der älteste lebende Literaturnobelpreisträger. Die Schilderungen in seinem Lebenswerk, der Trilogie «Archipel Gulag», veränderten auch die Einstellung vieler westlicher Intellektueller zur Sowjetunion grundlegend.
Verbannung nach Kritik an Stalin
In diesem literarisch-dokumentarischen Werk setzte er sich mit dem bis dahin geheimen System sowjetischer Gefangenenlager auseinander und machte die stalinistische Herrschaft begreifbar.
Alexander Solschenizyn wurde am 11. Dezember 1918 im Kaukasus geboren. Nach einem Studium der Mathematik kämpfte der junge Mann 1941 in der Sowjetarmee gegen die angreifende deutsche Wehrmacht.
Weil er in einem Brief an einen Freund die kriegerischen Fähigkeiten Stalins kritisierte, wurde er 1945 zu acht Jahren Straflager verurteilt. Diese Erfahrung zeichnete ihn für sein Leben und prägte seine schriftstellerische Arbeit.
Nach seiner Haftentlassung 1953 wurde er nach Zentralasien verbannt und begann mit dem Schreiben. Später kehrte er in den europäischen Teil der Sowjetunion zurück und arbeitete, während er weiter schrieb, in Riasan als Lehrer.
Keine Reise nach Stockholm
Der neue Staatschef Nikita Chruschtschow gab 1962 grünes Licht für die Veröffentlichung der Erzählung «Ein Tag im Leben des Iwan Dennissowitsch» über einen Gefangenen in einem Gulag. Weitere Werke Solschenizyns erschienen im Untergrund oder im Ausland.
1970 erhielt der inzwischen weltweit bekannte Autor den Nobelpreis für Literatur. Moskau liess ihn jedoch nicht an der Preisverleihung in Stockholm teilnehmen.
Vier Jahre später erschien «Archipel Gulag». Das Buch löste ein weltweites Echo aus. Die sowjetische Führung, die ihn bis dahin geduldet hatte, bürgerte ihn aus.
«Gemässigter Nationalist»
Anfang der 1990er-Jahre wurde er in Russland rehabilitiert und erhielt seine Bürgerrechte zurück. 1994 kehrte er in seine Heimat zurück. Später äusserte er sich verärgert und enttäuscht darüber, dass die meisten seiner Landsleute seine Bücher nicht gelesen hatten.
Solschenizyn blieb bis kurz vor seinem Tod ein kritischer Beobachter des neuen Russlands. Ähnlich wie der frühere Staatspräsident Wladimir Putin lehnte er eine russische Gesellschaft nach westlichem Vorbild ab und sprach sich dafür aus, dass das Land seinen eigenen Weg gehen müsse.
Georges Nivat bezeichnete den Verstorbenen als «gemässigten Nationalisten», aber als «unversöhnlich in wesentlichen Fragen», weil er «allen Territorien, einschliesslich Tschetschenien die Unabhängigkeit geben wollte».
Im Juni 2007 ehrte Putin Solschenizyn mit dem russischen Staatspreis.
swissinfo und Agenturen
«Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» (1962)
«Matrjonas Hof» (1963)
«Der erste Kreis der Hölle» (1968, erweiterte Fassung: «Im ersten Kreis», 1978
«Krebsstation» (1968)
«Der Archipel Gulag» (3 Bände 1973-1976)
«Das Rote Rad. Erster Knoten. August vierzehn» (1971, erweitert 1987)
«Das Rote Rad. Zweiter Knoten. November sechzehn» (1986)
«Das Rote Rad. Dritter Knoten. März siebzehn» (2 Bände 1991) «Russland im Absturz» (1998)
«Zweihundert Jahre gemeinsam» (2 Bände 2001/2002)
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