Jodel nach alter Väter Sitte
Volkstümliches erlebt in der Schweiz einen Boom. Doch Kommerz und Schlager haben mit der traditionellen Musik wenig gemeinsam. Eine Stiftung bewahrt die "echte" Appenzeller Volksmusik.
«Volksmusik machen auch emanzipierte und moderne Menschen», stellt Barbara BetschartExterner Link als erstes klar. Die Leiterin des Roothuus Gonten, Zentrum für Appenzeller und Toggenburger VolksmusikExterner Link, räumt gerne mit dem Vorurteil auf, Volksmusik sei konservativen Politikveranstaltungen vorbehalten.
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Musikzentrum in ehemaligem Gasthaus
Und es stimmt: Volksmusik ist in der Schweiz gerade hip – auch in den Städten. Das birgt laut Betschart aber auch Gefahren. «Was man heutzutage am Fernsehen sieht, ist Kommerz, und hat wenig mit der traditionellen Volksmusik zu tun», erklärt sie. Schlager sind für Betschart keine Volksmusik.
Musik für Touristen
Wer eine besonders urtümliche Volksmusik sucht, sollte die Säntis-Region besuchen. Im Appenzellerland und dem sankt-gallischen Toggenburg gehört Streichmusik noch immer zur Volkskultur, während diese in anderen Regionen der Schweiz durch Schwyzerörgeli, Akkordeon und Blasmusik verdrängt wurde.
Grund ist nicht nur die geographische Abgeschiedenheit der Region, sondern auch der Tourismus, der sich bereits im 19. Jahrhundert etablierte. Touristen und Kurgäste wünschten traditionelle Musik, also wurde die damalige Musik bis heute bewahrt.
So auch der Naturjodel, bei dem ohne Worte gesungen wird. «In der Säntis-Region gibt es einen Vorjodler und eine zweite Stimme, dazu einen ‹Chor›, der als Basis die immer gleichen tiefen Töne anstimmt. Wer einigermassen musikalisch ist, kann daher aktiv mitjodeln», erzählt Betschart. «In der Innerschweiz wäre das undenkbar, denn dort ist der Naturjodel harmonisch so kompliziert, dass man diesen kennen muss, um mitjodeln zu können.» In der Säntis-Region sei das Jodeln daher viel spontaner und geselliger.
Katholiken verjagen Hackbrettspieler, Protestanten zerstören Orgeln
Die Volksmusik in der Säntis-Region ist stark durch Religion und konfessionelle Spaltung nach der Reformation geprägt. Eifersüchtig wachten die Formationen darüber, dass ihre Stücke nicht in die andersgläubige Region gelangten. So entwickelten sich regional unterschiedliche Färbungen.
Sowohl im katholischen Appenzell-Innerrhoden als auch dem protestantische Ausserrhoden und Toggenburg waren Tanz und Musik nur an ganz wenigen Feiertagen im Jahr erlaubt. «Dafür gingen dann aber auch alle hin. Vor allem, um sich eine Frau zu suchen», sagt Matthias WeidmannExterner Link, Fachmitarbeiter im Roothuus Gonten. «Das war damals der wichtigste Heiratsmarkt.»
Nicht immer ging es dabei gesittet zu und her. Anfang des 16. Jahrhunderts beauftragten die Katholiken den LandjägerExterner Link (eine Art polizeilicher Ordnungshüter), alle Hackbrettspieler aus Innerrhoden zu vertreiben. Denn die Hackbrettspieler hatten einen Ruf als Schürzenjäger und Säufer. «Das ist bis heute ein bisschen so», sagt Weidmann und lacht.
Die Reformierten hingegen zerstörten oder entfernten im Rahmen des zwinglianischen «BildersturmsExterner Link» die Kirchenorgeln. Deshalb entstand seit dem 18. Jahrhundert in den protestantischen Regionen eine Kultur von HausorgelnExterner Link, die man in Privathäusern aufbaute und spielte.
Geld für Musik verlangen? Absurd!
Doch der Boom des Volkstümlichen bedroht nun auch die urtümliche Appenzeller Volksmusik. Weidmann warnt, dass mit zunehmender Kommerzialisierung das Repertoire schmaler werde. «Man spielt immer die bekannten Hits, welche die Leute hören wollen.»
Typisch für die Kommerzialisierung sei auch, dass die Gagen stiegen. Ein jugendlicher Hackbrett-Solist könne heutzutage locker 1’000 Franken für einen zweistündigen Auftritt an einer Hochzeit verlangen.
Für Weidmann ist das unverständlich. Er erzählt eine Anekdote von einer Studentin aus den USA, die am Zentrum eine Dissertation zum Thema Swissness am Beispiel der Appenzeller Volksmusik geschrieben habe:
«Sie spielte sehr gut Geige, daher nahm ich sie mit an eine Hochzeit, um zu spielen. Am Ende übergab das Brautpaar jedem Musikanten ein Couvert mit Geld. Die Studentin sah mich treuherzig an und fragte: ‹Warum bekommt man dafür Geld? Wir durften hier doch spielen und essen.› Für eine Amerikanerin war das völlig unverständlich und für mich eigentlich auch. Ich habe vor drei Jahren beschlossen, dass man meine Musik nicht mehr kaufen kann. Es gibt sie nur noch geschenkt.»
Schätze auf den Dachböden
Das Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik hat es sich zur Aufgabe gemacht, die originäre Volksmusik aus dem Säntis-Gebiet zu bewahren.
Wie geht das konkret? Häufig werden nach Todesfällen bei Hausräumungen auf Dachböden alte Musiknoten gefunden. Solche Privatnachlässe gelangen durch Schenkungen zum Roothuus Gonten, wo sie erforscht und archiviert werden. Das Zentrum macht die Musik zudem allen zugänglich: Es publiziert transkribierte Noten auf der WebsiteExterner Link oder in Heftform. So haben laut Betschart auch Kinder, die nicht mit der Volksmusiktradition in Berührung kommen, die Möglichkeit, Volksmusik zu erlernen.
Doch die Noten verstauben nicht bloss im Archiv: Das Zentrum organisiert regelmässig Konzerte und «StobedenExterner Link» – gemütliche Treffen mit Musik, Tanz und Tranksame –, wo die Stücke auch tatsächlich gespielt werden. «Musik muss man erleben», sagt Betschart.
Mädchen waren ausgeschlossen
Die Archivarbeit ist aber deshalb wertvoll, weil Appenzeller Volksmusik traditionellerweise mündlich weitergegeben wird. Früher konnten viele Menschen nicht Noten lesen. Also ging alles über das Gehör. Die Arbeit des Zentrums sei eine Ergänzung zu dieser mündlichen Kultur, indem es die Volksmusik historisch festhalte, während die gelebte Musik sich wie ein Dialekt über die Generationen weiterentwickle und verändere, sagt Betschart.
Diese direkte Überlieferung innerhalb der Familie ist in der Säntis-Region heute noch verwurzelt. Früher ging das Musikwissen traditionell von Vater zu Sohn. Mädchen waren laut Betschart damals ausgeschlossen und erfüllten in ihren adretten Trachten bloss die Funktion eines «optischen Gewinns». Heute mag das anders sein. Aber: «Es ist in der Säntis-Region immer noch so, dass mehr Männer Volksmusik machen als Frauen», sagt Betschart.
Was ist für Sie der Unterschied zwischen Schlager und echter Volksmusik? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!
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Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik («Roothuus Gonten»)
Zu den Aufgaben des Zentrums gehört das Sammeln, Archivieren, Forschen und Vermitteln. Vor allem aus Privatnachlässen werden Notenmaterial, Briefe, Bilder, Fotos und Audiomaterial archiviert, erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mit Führungen durch das Haus, «Stobeden», Konzerten und Kursen (Zither-, Jodel-, Tanz- und Geigenkurse) wird die Appenzeller Volksmusik lebendig gehalten.
Das «Roothuus Gonten» ist eine Stiftung der Kantone Appenzell-Innerrhoden, Appenzell-Ausserrhoden und St. Gallen, des Bezirks Gonten und der gemeinnützigen Gesellschaft Appenzell. Das Zentrum feiert am 15. Mai sein zehnjähriges Bestehen.
Appenzeller Humor
Seit Ende des 18. Jahrhunderts sagt man den Appenzellern nach, besonders witzigExterner Link zu sein. In der Musik zeigt sich dies an den «Ratzliedli» genannten Spottliedern. Sowohl Ratzliedli als auch Witze waren ein Ventil, um Ärger über Autoritätspersonen wie Pfarrer oder Lehrer abzulassen. Ein Beispiel:
Ein Bauer hatte einen Traktor, der nicht funktionierte. Er fluchte: «Herrgottsack, er läuft wieder nicht!» Da kam der Pfarrer und sagte: «Aber, aber, so spricht man doch nicht. Fluchen nützt nichts.» Da sagte der Bauer: «Ihr habt gut reden. Was soll ich denn machen?» Der Pfarrer sagte: «Du könntest sagen: Hilf mir Gott.» Der Bauer dachte, der Pfarrer spinne, sagte aber: «Helf mir Gott» – und der Motor startete. Da sagte der Pfarrer: «Herrgottsack, das hätte ich jetzt auch nicht geglaubt.»
Es gab sogar schon Gerichtsverfahren über Ratzliedli, in denen sich Nachkommen von Verspotteten gegen bestimmte Strophen wehrten. Heute gibt es zwischen Heiden und Walzenhausen einen WitzwanderwegExterner Link, der mit Witztafeln gesäumt ist.
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