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Arno Camenischs Schweiz ausserhalb der Norm

Arno Camenisch: "Nur die Schweizer finden meine Geschichte typisch schweizerisch!" Yvonne Bohler

Er ist Autor einer Trilogie, die in einem Bündner Bergdorf den Sprachenmix und das einfache Leben vibrieren lässt. Die knorrigen Figuren des 34-jährigen Schriftstellers Arno Camenisch sind in der Schweizer Kultur verankert, zugleich aber auch weltoffen.

«Die Helvezia hat Geburtstag (…) Das gibt ein fabulus Fest (…) Am Podest hängt die Schwiizerfahna. Als es Abend wird, sind alle Leute aus dem Dorf da.» Diese «Helvezia» hat nichts gemeinsam mit jener Helvetia, die wir als Klischee kennen. So wie sie der Bündner Autor Arno Camenisch in seiner Erzählung Hinter dem Bahnhof sieht, ist «Helvezia» nicht einmal ein Land. Es ist ein «Restorant», orthografisch missgebildet, so «missgebildet», wie es aus der Sicht eines Kindes auch einige Bewohner dieses Bergdorfes sind.

Dieses Kind ist die erzählende Person. In Folgen von Chroniken schildert der Erzähler seine unverbrauchten und witzigen Beobachtungen über das Leben eines Bergdörfchens im Kanton Graubünden – ein Gegensatz zur archetypischen Schweiz, gefangen in ihrer luxuriösen und geglätteten Schönheit.

Man erfährt den Namen des Dorfes nicht. Aber man weiss, dass dort 13 Katzen, 6 Hunde, 4 Hydranten und 40 Einwohner leben. Städter nennen solche Bergler «Schaissoberländers», doch das ist denen wurscht. Die Herzensgüte der Dorfbewohner wehrt jede Widrigkeit ab, ja sie lässt sogar deren Invalidität vergessen.

Eine Sprache von Bundesgenossen

Etwas Zärtliches und gleichzeitig Monströses bricht aus diesem Dorf aus, mit seinen aussergewöhnlichen Bewohnern, wie Tini Blutt, ein Exhibitionist mit undefinierbarem Geschlecht. Oder der Grossvater des Erzählers mit seinen «siebeneinhalb Fingern». Seine linke Hand hat fünf Finger, die rechte Hand Daumen, Zeigefinger und einen halben Mittelfinger. Ein Krüppel, wie andere Figuren von Camenisch, die er bereits in Sez Ner, im ersten Teil seiner Bündner Trilogie, ersonnen hat.

Arno Camenisch selbst ist auch aussergewöhnlich. Es gibt in der Schweiz kein Pendant. Nicht wegen des Themas in seinem Werk, sondern wegen seiner einzigartigen Sprache, wo Deutsch, Schweizerdeutsch, Italienisch und Rätoromanisch ineinander fliessen und eine ganz neue Sprache bilden.

Eine Sprache von Bundesgenossen, möchte man sagen, derart stark vereinigt die Schreibweise Camenischs die Schweizer Mehrsprachigkeit. Eine Mischsprache, die in der französischen Version von Camille Luscher noch bereichert wird. Sie hat Hinter dem Bahnhof, den zweiten Teil der Trilogie, übersetzt.

Die 25-jährige Camille Luscher hat Ausdrücke kombiniert, in einem einzigen Wort lateinische und germanische Klänge vereinigt und damit etwas realisiert, das bisher noch keinem einzigen Schweizer Politiker gelungen ist: die Aufhebung der Sprachgrenzen, ja sogar der geografischen Grenzen.

Den «Röstigraben» sprengen

Sie habe den «Röstigraben» gesprengt, wird ihr nachgesagt. Camille Luscher lacht: «Zweifelsohne. Auch wenn die Sprache, die ich gebrauche, künstlich ist, widerspiegelt sie eine gewisse Einheit.»

Sie habe unbedingt das Rätoromanische im Französischen hörbar machen, es aus seinen Bündner Grenzen herausnehmen wollen. «In der französischsprachigen Schweiz sind viele Ausdrücke vom Deutschen infiziert, aber nur wenige vom Italienischen oder Rätoromanischen. So paradox das scheinen mag, Rätoromanisch ist in der Westschweiz wenig bekannt. Nur wenige Leute wissen, dass es sich dabei um eine romanische Sprache handelt», so Camille Luscher.

Man könnte denken, die Erzählung von Arno Camenisch sei unzugänglich, gerade wegen der regionalistischen Sprache und der beschriebenen Bergler-Gesellschaft, mit der sich ein ausländischer Leser nur schwierig identifizieren kann. Arno Camenisch behauptet das Gegenteil. Er betont, dass Hinter dem Bahnhof weltoffene Figuren ins Szene setzt: einen Eisenwarenhändler, einen Milchmann, einen Dichter, einen Mechaniker, einen Arzt…

Internationale Anerkennung

Der Erfolg seines Werkes ausserhalb der Schweizer Grenzen gibt Camenisch recht. Sez Ner wurde übersetzt ins Englische, Französische, Italienische, Ungarische, Holländische, Rumänische und Bulgarische. Und Hinter dem Bahnhof ist auf gutem Weg dazu.

Der mit dem Preis ‹Best European Fiction› ausgezeichnete erste Teil der Bündner Trilogie Sez Ner hat dem Romanautor die Anerkennung vom grossen amerikanischen Verlag Dalkey Archive Press gebracht. Dieser hat die Rechte für die Trilogie von Camenisch gekauft. Das US-Verlagshaus wird Sez Ner, Hinter dem Bahnhof und Ustrinkata 2013, 2014 und 2015 publizieren.

Der letzte Teil der Trilogie, Ustrinkata, der den Tod einer Dorfkneipe erzählt, ist vor kurzem auf Deutsch erschienen. Arno Camenisch wird in Kürze in New York aus dem neuen Buch lesen, so wie er fast ein wenig überall in der Welt aus den beiden ersten Trilogie-Teilen gelesen hat. «Keine Verständigungssperre», sagt er dazu und insistiert auf die Weltoffenheit seines Werkes.

«In Deutschland, in Ungarn suchte mich das Publikum nach der Lesung von Hinter dem Bahnhof auf», erzählt Camenisch. Eine Frau habe zu ihm gesagt: «Diese Strasse, die Sie beschreiben, ist meine Strasse. Ich habe in Ihren Figuren die Bewohner meines Quartiers wiedererkannt.»

Dennoch ist es schwierig, sich vorzustellen, wie eine derart farbige Sprache zum Beispiel ins Englische übersetzt werden kann. Verliert die in Hinter dem Bahnhof erzählte Geschichte dadurch nicht ihre Würze? «Ich denke nicht», entgegnet Camille Luscher. «Jeder Übersetzer passt die Geschichte Camenischs an die Sprache an, in die er sie übersetzt. Der Englisch-Übersetzer von Arno ist Schotte. Er sagt, er wolle das in Schottland auf dem Land gesprochene Englisch anwenden.»

Eine hübsche Art und Weise, die helvetischen Regionalismen zu exportieren! «Helvetische Regionalismen?», fragt Arno Camenisch erstaunt. Und gleich fügt er bei: «Nur die Schweizer finden meine Geschichte typisch schweizerisch!»

Geboren 1978 in Tavanasa, Kanton Graubünden. Dort besucht er die Primar- und Sekundarschule.

Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er auch lebt.

Der Romanautor, Dichter und Dramaturg schreibt auf Deutsch und Rätoromanisch.

Arno Camenisch bereiste Europa, Australien, Asien und Lateinamerika.

2005 erschien sein Roman Ernesto ed autras manzegnas auf Rätoromanisch.

Sez Ner (2009), Hinter dem Bahnhof (2010) und Ustrinkata (2012) bilden seine Bündner Trilogie (Engeler Verlag Solothurn).

Sez Ner und Hinter dem Bahnhof wurden von Camille Luscher ins Französische übersetzt (Editions d’En bas Lausanne).

2010 erhielt Arno Camenisch für Sez Ner den ZKB-Schillerpreis und den Berner Literaturpreis.

Ebenfalls 2010 gewann er den Rätoromanischen Literaturpreis «Premi Terem Bel».

2011 wurde er für Hinter dem Bahnhof mit dem Berner Literaturpreis ausgezeichnet.

Geboren 1987 in Genf. Sie lebt heute in Lausanne und studiert dort französische und deutsche Literatur.

Mehrere Aufenthalte in Berlin, wo sie regelmässig wieder hingeht.

Zusammenarbeit mit dem Literaturfestival von Leukerbad im Kanton Wallis.

Teilnahme an einem Übersetzungs-Stage von «Nord-Sud-Passage», in deren Rahmen sie Kurzeschichten von Christine Pfammatter übersetzt hat.

Camille Luscher hat Sez Ner und Hinter dem Bahnhof von Arno Camenisch ins Französische übersetzt.

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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