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Art Brut wird vom Marktrausch erfasst

Josef Bachler/Collection de l'Art Brut Lausanne

Die plötzliche Popularität der Art Brut hat einen Rausch ausgelöst, der sich auf den zeitgenössischen Kunstmarkt auswirkt. Weil die Nachfrage wächst, diskutieren Experten und Sammler, ob es für die Art Brut, die von ungeschulten Künstlern hergestellt wird, einen Überlebensgrund gibt.

«Zunächst einmal ist Art Brut keine Kunstbewegung mit einem Anfang und einem Ende», sagt Sarah Lombardi, welche die «Collection de l’Art Brut», die erste und grösste in dieser Art, leitet.

Das Lausanner Museum wurde 1976 auf der Grundlage einer Sammlung des französischen Malers Jean Dubuffet gegründet, der den Begriff «Art Brut» prägte, um eine «künstlerische Operation zu definieren, die ganz rein, roh, in sämtlichen Phasen durch den Autor neu erfunden ist und nur auf dessen eigenen Impulsen basiert».

«Das Neue daran ist, dass Art Brut nicht mehr in den Schatten der Kunstwelt gestellt wird», sagt  Lombardi und gibt zu verstehen, dass Jean Dubuffet den aktuellen Trend nicht vorausgesehen hat.

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Lausanne präsentiert artistische Obsessionen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Museen und Galerien, die sich der Art Brut widmen, tauchen überall auf», sagte Direktorin Sarah Lombardi bei der Eröffnung der Ausstellung. «Es ist unsere Pflicht, eine internationale Referenz zu bleiben, indem wir die Identität des Museums bestärken und die Werke aus unserer sorgfältig aufgebauten und umfangreichen Sammlung präsentieren.» Das Museum wurde 1976 von Jean Dubuffet…

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Was Dubuffet nicht voraus sah

Zahlreiche renommierte Ausstellungsplätze, darunter auch die Biennale 2013 in Venedig, haben zum Thema Art Brut bereits Events organisiert. Neu ist der Fokus, der nicht auf die Exzentrizität, sondern auf die Kreativität der Art Brut – auch bekannt als Aussenseiter- oder rohe Kunst – gelegt wird. Die Grenzen mit der Mainstream-Kunst werden aufgelöst.

«Dubuffet vermutete, dass Art Brut, die sich wie ein Widersacher verhalte, traditionelle Museen zu Fall bringen würde. Tatsächlich ist aber das Gegenteil eingetreten: Art Brut ist von der Kunstwelt einverleibt worden, auch vom zeitgenössischen Kunstmarkt», sagt Sarah Lombardi und erinnert an die Aussenseiter Kunstmessen, die nun neben grossen Handelsmessen stattfinden, wie FIAC in Paris sowie die Londoner und New Yorker Frieze-Kunstmessen.

Das in Zürich neu eröffnete Musée Visionnaire, eine Zweigstelle einer ehemaligen kommerziellen Galerie, zielt darauf ab, Art Brut im Kontext zu verwandten Kunstformen wie Stadt- und Strassen-Kunst zu zeigen.

Ausserhalb der Marktkräfte

Das Paradoxe daran sei, sagt Sarah Lombardi, dass Art-Brut-Künstler, die sie lieber Autoren nennt, niemals der Anerkennung oder des Geldes wegen arbeiteten und deshalb nicht auf Markterwartungen reagierten. Gewisse Gesamtwerke würden manchmal erst entdeckt, wenn die Autoren bereits tot seien.

Es sei die Aufgabe der Experten, an diese Tatsachen zu erinnern, sagt sie: «Das ist unser Motor.»

Die von Sarah Lombardi kürzlich lancierte Biennale (Vgl. Fotogalerie) ist so ein Memorial an die Rolle der Lausanner Kollektion, sowie eine Möglichkeit, den aussergewöhnlichen Reichtum einer Sammlung zu präsentieren, die bereits 60’000 Werke umfasst, darunter 5000 aus Dubuffets Spende.

Natürlich kann sich das Museum nicht dem Kunstmarkt entziehen, sagt sie, «aber wir ziehen es vor, diesem zuvor zu kommen».

Auf die Frage, woher die plötzliche Anerkennung komme, sagt Sarah Lombardi: «Art Brut hat eine spirituelle Dimension, die der zeitgenössischen Kunst oft fehlt.»

Courtesy Delmes & Zander

Seltsame Geschäfte

Während Art-Brut-Museen, die in vielen Ländern wie Pilze aus dem Boden schiessen (Vgl. INFOBOX), dazu tendieren, sich ausserhalb des Kunst-Mainstreams halten, versuchen Galerien alles, um in diesen zu gelangen. Schliesslich müssen sie verkaufen.

Susanne Zander, die Eigentümerin der Cologne-Galerie, war in den letzten 25 Jahren eine unermüdliche Entdeckerin der Art Brut. Diese sollte ausserhalb der zeitgenössischen Kunst gewürdigt werden. Sie entlehnt sich dafür den von Roberta Smith, Kunstkritikerin der New York Times geprägten Begriff «konzeptuelle Aussenseiter», um die konzeptionellen Mono-Manien der Künstler zu beschreiben, die wie besessen mit einem bestimmten Medium arbeiten und dadurch mit ihrer Kunst eine komplett eigene Welt schaffen.

Susanne Zander geht davon aus, dass sich die Aussenseiter-Kunst mit der wachsenden Virtualisierung der Welt auf dem Vormarsch befinde. «Im digitalen Zeitalter suchen die Menschen nach Wurzeln, nach Authentizität», sagt sie und fügt hinzu, dass sie mehr als die Hälfte ihrer Zeit mit der Suche nach neuen «konzeptionellen Aussenseitern» verbringt.

«Sie können mir 1000 Werke zeigen und ich erkenne daraus sofort die wichtigen», sagt sie. «Je seltsamer die Arbeit ist, umso leichter fällt es mir, mich in sie zu versetzen und die Welt aus der Perspektive des Künstlers zu sehen, wenn auch nur für wenige Momente.»

Der Kunstmarkt habe sich nicht merklich verschoben, meint Susanne Zander, bei ihren Sammlern handle es sich immer noch um die gleichen wie vorher. «Aber das Interesse des Publikums hat stark zugenommen.» Zander besteht darauf, dass Aussenseiter-Kunst nicht unterschiedlich behandelt werden sollte. «Sie gehört nicht auf dunkle Wände.»

Allein 2013 wurden bahnbrechende Art Brut-Ausstellungen auf vielen renommierten Plätzen gezeigt:

Die Hayward Gallery in London präsentierte «The Alternative Guide to the Universe». Die Wellcome Collection zeigte Aussenseiter Kunst aus Japan

     

Das Hamburger Bahnhof Museum organisierte in Berlin die Serie «Secret Universe», sowie eine Ausstellung des Visionärs Hilma af Klingt, ein Pionier der Abstraktion.

     

Das Thema der 55. Biennale von Venedig 2013 basierte auf dem «Palast für die Enzyklopädie der Welt» von Marino Auriti, einem Arbeiter und autodidaktischen Künstler, und wurde auf Heiler und Denker des 20. Jahrhunderts ausgedehnt.

Alles für alle

«Jean Dubuffet war brillant, aber trügerisch und er hatte etwas Faschistisches», sagt James Brett, ein britischer Filmproduzent. Für Brett ist die Leidenschaft für Aussenseiter-Kunst (ein Begriff, den er vermeidet) zu einem Abenteuer geworden, das heute sein Leben dominiert.

Die Gründung des «Museum for Everything» basierte 2009 auf Bretts Interesse für den «ungeübten, absichtslosen, unentdeckten und nicht-klassifizierbaren Künstler der Neuzeit».

Sein Nomaden-Museum, dessen Werke im Wesentlichen aus seiner eigenen Sammlung stammen, wurde in London, Turin, Paris, Moskau und Venedig unter grossem Beifall gezeigt und lockten ein völlig neues Publikum an.

Brett ist überzeugt, dass der deutliche Konsum von moderner und zeitgenössischer Kunst während wirtschaftlichen Rezessionsphasen mitgeholfen hat, sein Projekt über Wasser zu halten. «Die Leute müssen eine Verbindung herstellen mit der Kreativität», sagt er.

Gefahr in Sicht?

Im Gefolge der Bekanntheit der Art Brut sei der Begriff häufig missbräuchlich verwendet worden, sagt Sarah Lombardi, zum Beispiel als die Pariser City Hall im November 2013 unter dem Titel «Art Brut: absolut exzentrisch» Werke ausstellte, die in Behinderten-Werkstätten hergestellt worden waren.

Es sei ein verbreiteter Irrtum, auch unter zahlreichen Galerien und Händlern, jede Kunst, die von Menschen am Rand der Gesellschaft gemacht wurde, unter diese Kategorie zu stellen, sagt Sarah Lombardi.

Nur wenn ein Werk ein starkes und komplexes Repräsentations-System widerspiegelt, kraftvoll und einzigartig ist, kann es als Art Brut bezeichnet werden, sagt die Museums-Direktorin. Und dafür brauche es auch noch Talent.

Unter den Menschen, die zu Randgruppen gehörten, gebe es nicht mehr Talent und Kreativität als unter Menschen anderer Kreise. «Das Phänomen ist sehr selten», sagt sie.

Die emotionale Wirkung eines Kunstwerks, die Art, wie dieses den Betrachter in Schwingungen versetzt, sei das entscheidende Kriterium. «Man wird nicht über Nacht zu einem Experten für Art Brut», sagt Sarah Lombardi.

Art Brut Museen zeigen oft Volks- oder naive Kunst. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will die Vielfalt der Institutionen und deren Besonderheiten zeigen.

Schweiz

Collection de l’Art Brut, Lausanne, ist ausschliesslich der Art Brut gewidmet.

Musée Visionnaire, eine Zweigstelle der Susi Brunner Galerie in Zürich, erstreckt sich auf Kunst, die als visionär bezeichnet wird.

Museum im Lagerhaus Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut in der Nähe von St. Gallen, widmet sich sowohl der schweizerischen naiven Kunst wie der Art Brut.

 

Europa

Lille Métropole Museum of Modern, Contemporary and Outsider Art im Norden Frankreichs ist das einzige Museum, das unverschämt alle Kunstarten mischt.

GAIA Museum of Outsider Art in Randers, im Norden von Dänemark.

Safnasafnið, the Icelandic Folk and Outsider Art Museum, im Norden Islands.

 

USA

American Folk Art Museum in New York beschränkt sich auf neue Prämissen.

American Visionary Art Museum in Baltimore lässt sich von der Collection de l’art brut in Lausanne inspirieren.

Intuit: The Center for Intuitive and Outsider Art, Chicago

Russland

Moscow Museum of Outsider Art widmet sich ausschliesslich Sammlungen und Ausstellungen von Aussenseiter-Kunst in Russland.

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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