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Artistischer Tanz zwischen Himmel und Erde

Die Luftstation in Aktion. (Willi Kracher) Willi Kracher

Mit der Luftstation, einem beweglichen Sonnensegel, wagt sich die Schweizer Gruppe "öff öff Productions" in schwindelnde Höhen - und erstmals auf Tournee.

Bisher bekannt für ihre waghalsigen Tanznummern in den Gestängen von Eisenbrücken, ziehen sie nun mit einer eigenen Konstruktion von Stadt zu Stadt.

Ein Mann hängt an einem Seil. Er scheint in der Luft zu stehen. Rund um ihn herum dreht sich alles, doch er schwebt scheinbar schwerelos am gleichen Ort.

Als ihn ein riesiger, langsam kreisender Flügel einholt, behält er seine stehende Position bei und lässt sich von der Metallkonstruktion wegtragen. Wie wenn er schon immer dort gestanden hätte.

Der Mann heisst Pascal Siegrist und ist Tänzer. Aber eigentlich ist er passionierter Kletterer. «Ich klettere, seit ich 12 bin», sagt er gegenüber swissinfo. «Mit 20 habe ich intensiv zu tanzen begonnen. Das ist natürlich speziell, diese zwei Leidenschaften verbinden zu können.»

Die Luftstation

Ein Mast, daran zwei asymmetrische Flügel. 17 Meter hoch und 4,5 Tonnen schwer ist die an Teile eines Krans oder an ein Sonnensegel erinnernde Konstruktion aus Stahl, die «Luftstation» heisst.

Darauf bewegen sich drei Frauen und drei Männer. Sie spielen mit der Schwerkraft und der Asymmetrie der Konstruktion. Sobald sich eine Tänzerin, ein Artist bewegt, hat dies einen Einfluss auf die Bewegung der beiden Flügel und damit auch auf die anderen Leute auf dem Objekt.

«Das bedeutet natürlich, dass man in einer sehr grossen Abhängigkeit zueinander steht», erklärt Heidi Aemisegger, künstlerische Leiterin und der eigentliche Kopf von öff öff Productions.

Flieg nicht zu hoch, mein Sohn

«Diese Abhängigkeit birgt, wie im persönlichen Leben auch, eine Gefahr in sich», ergänzt sie. «Wenn ich unachtsam meinem Gegenüber oder einer Gruppe von Menschen bin, kann ich diese auf der Luftstation relativ schnell in eine sehr kritische Lage versetzen.»

Daher ist eine sehr genaue Koordination der Bewegungen der sechs Menschen nötig, die an der imposanten Konstruktion hängen und sich miteinander und gegeneinander bewegen.

Eingebettet ist dieses Spiel mit Balance und Schwerkraft in der Geschichte von Daedalus und Ikarus. Die beiden griechischen Sagengestalten wollten fliegen, doch Ikarus nahm den Rat des Vaters nicht ernst. Er wollte zu hoch hinaus, verbrannte sich die Flügel an der Sonne und stürzte ab.

Sicherheit zuerst

Damit es zu keinen Abstürzen von Artisten kommt, sind sie mit Klettergurten gesichert. Auch für den Auf- und Abbau der Luftstation sind die Künstler verantwortlich. «Es schafft Vertrauen, zu sehen, wie es aufgebaut ist, wie es funktioniert», sagt Fiona Hirzel, die vom klassischen Ballett her kommt.

Für die Konstruktion der Luftstation haben die Erbauer einen pensionierten Ingenieur zugezogen. «Der hat in seinem Leben über 70 Kräne gebaut», weiss Aemisegger.

Luftstation heisst ein Bild von Paul Klee, dessen Museum Mitte Juni in Bern eröffnet wird. Für das Aufrichte-Fest des Zentrums Paul Klee hatte öff öff in einer inszenierten Führung vier Bilder bespielt. Darunter auch Luftstation. «Dieser Titel hat mich sehr angesprochen.»

Tanz auf bewegtem Objekt

Die Idee, auf und an Objekten zu tanzen, hatte Aemisegger vor rund zehn Jahren. Für einen Auftrag der Berner Tanztage wollte sie etwas Neues aufführen. Sie sagte sich: «Wenn schon, dann möchte ich an der Wand tanzen. Das war der Grundstein unserer Spezialität.»

Diese Spezialität baute öff öff während der Jahre aus. Die bekanntesten Produktionen waren «The Bridge» und «Eye Bridge». Beide spielten unter der Berner Kirchenfeldbrücke, einer Eisenkonstruktion, in schwindelnder Höhe. 17’000 Leute sahen die Produktionen.

Nun kommt erstmals dazu, dass ein bespieltes Objekt nicht statisch ist. «Es ist eine neue Herausforderung, sich auf einem Objekt zu bewegen, das sich selbst bewegt», meint Pascal Siegrist.

Fiona Hirzel fühlt sich eins mit dem Gerüst, auf dem sie tanzt. Wenn sie jedoch herunterkommt, «ist es, wie wenn man vom Schiff kommt: Man kann nicht mehr gerade stehen, man liegt im Bett, und die Flügel drehen weiter».

Sehr gefragt

Für öff öff bricht mit der Luftstation eine neue Ära an. Erstmals ist die Gruppe nicht mehr an einen Ort gebunden und kann mit ihrem Objekt von Stadt zu Stadt reisen.

Heidi Aemisegger freut sich, «dass ein Stück an Reife gewinnen kann, wenn man es über 60 Mal spielt».

Neben der diesjährigen Tournee wird öff öff im Juli mit einer Produktion bei der Eröffnung des neuen «Stade de Suisse» in Bern auftreten und darf im Oktober an der Biennale in Venedig eine Koproduktion zeigen.

«Erfolg ist immer schön», meint Aemisegger. «Aber er ist keine Garantie.» Daher plant sie schon weiter: Nächstes Jahr möchte sie die Luftstation in die Westschweiz bringen, eventuell auch ins nahe Ausland.

Das Herumziehen im Wohnwagen gefällt den Artisten. «Eigentlich wollte ich nicht Tänzerin werden, sondern Zirkusartistin», sagt Hirzel. Mit dieser Produktion nun komme sie über viele Umwege «eigentlich zu meinem Ursprung zurück».

swissinfo, Christian Raaflaub

Die Luftstation ist 17 Meter hoch und wiegt 4,5 Tonnen.
3 Frauen und 3 Männer arbeiten auf ihr.
Die Musik wurde speziell für die Luftstation geschrieben und wird grösstenteils live gespielt.
Für die Tournee sind 65 Aufführungen geplant.
Sie dauert vom 10. Juni bis 24. September.
Premiere ist am 9. Juni auf dem Berner Gurten.

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