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Betty Brenner bricht ihr Schweigen über den Holocaust

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Betty Brenner, 1937 geboren, wurde als Jüdin verfolgt. Annette Boutellier

Betty Brenner flüchtete 1968 aus der damaligen Tschechoslowakei in die Schweiz - und erfuhr viel Solidarität. Über ihre erste Flucht als Jüdin wagte sie jedoch kaum zu sprechen. 

Dezember 2019, ein erstes Gespräch. Betty Brenner, 82, sitzt auf dem Sofa in der Mitte des Wohnzimmers, die auffallend blauen Augen blicken hellwach. Es war nicht einfach gewesen, ein Datum zu finden, ihre Agenda ist immer voll. 

Seit 51 Jahren lebt sie in Zofingen. «Ein schönes Städtchen, ich bin hier wirklich glücklich.» Sie schweigt, schiebt den Satz nach: «Irgendwo muss man ja zu Hause sein.» Sie hatte damals nicht weggewollt aus der Tschechoslowakei, weg von Brünn. Aber als im August 1968 die sowjetischen Panzer den «Prager Frühling» im Keim erstickten, hatten sie und ihr Mann Ernst den kleinen Tomas ins Auto gepackt und waren über die Grenze nach Österreich gefahren. 

Zur Zeit des kalten Krieges war die Solidarität mit denjenigen, die aus den Staaten des Ostblocks geflohen waren, gross – auch in der Schweiz. Betty Brenner sagt: «Wir waren hier sehr sehr willkommen.» Wenn sich jemand dafür interessierte, erzählte sie vom Alltag im Kommunismus und vom Einmarsch der sowjetischen Truppen. Von jener ersten Flucht in das slowakische Veporské-Gebirge, kaum vergleichbar mit der zweiten und viel gefährlicher, sprach sie nie.

Heute? Betty Brenner hatte gezögert: «Ich hüte mich, davon zu reden.» Und dann war sie doch einverstanden, ihre Geschichte zu erzählen. Obwohl sie weiss, dass es sie aufwühlt. Die Frage, drängender als früher: Wie hätte sie das alles bewältigt, wenn sie an Stelle ihrer Eltern gewesen wäre? Nun «als alter Mensch», beschäftigt sie das mehr, «viel viel mehr». 

Einmal sagt sie: «Manchmal zittere ich, wenn ich daran denke, was die Eltern durchgemacht haben.» Damals war sie zu klein gewesen, um wirklich zu verstehen, weshalb sie auf der Flucht waren. Als jener Fremde gekommen war und gefragt hatte, wie sie heisse, war sie unsicher geworden. Lügen, hatte die Mutter gesagt, dürfe man nicht. 

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Aber die Mutter hatte auch gesagt, dass sie jetzt einen anderen Nachnamen hätten, «wir heissen Lacković». Es lag Schnee, Betty, sieben Jahre alt, war Schlitten gefahren an dem Tag und hatte dem Fremden geantwortet: «Ich weiss nicht, wie ich heisse. Ich muss die Mutter fragen.» Der Vater, als er davon hörte, reagierte schnell: «Wir müssen weiter.»

Der Schock, das Erschrecken kamen erst viel später, als sie alt genug war, um zu verstehen, wie schief das hätte gehen können. Erinnerungen wie diese lassen sie zögern. Szenen, die sie nachher lange beschäftigen, wenn sie davon gesprochen hat.

«Was hat der alte Jude denn getan?»

Betty Brenner zeigt mir ein Foto: Sommer 1944, die Familie vor ihrem Haus in Muráň, Klara und Ladislav Engel mit den beiden Kindern, in der Mitte die Grossmutter, Františka Engel, in einem langen, bis zum Hals zugeknöpften Rock. Alžbeta trägt schwarze Lackschuhe, Ervin presst die gestreckten Arme fest an den Körper.

Das Bild ist ein Abschiedsfoto; die Grossmutter reiste kurz darauf nach Budapest zu ihrer Tochter. Der Vater hatte gedacht, dass sie dort wohl besser geschützt sei als in der Slowakei. Ladislav Engel, der sonst so oft intuitiv das Richtige tat, der ein fast untrügliches Gespür für Gefahr zu haben schien und dafür, wann die Familie wieder weitermusste, hat sich später, als er vom Tod seiner Mutter erfuhr, grosse Vorwürfe gemacht. Františka Engel war ein paar Monate nach ihrer Ankunft von den Pfeilkreuzlern, den ungarischen Faschisten, lebendig begraben worden.

Ladislav Engel war eine angesehene Persönlichkeit, Kaufmann von Beruf, gescheit, umsichtig: «Wegen ihm sind wir am Leben geblieben.» Am 18. Oktober, als die deutschen Truppen schon fast in Muráň waren, versammelten sich «ungefähr achtzig Leute» im Haus der Familie und wollten von ihm wissen, was nun zu tun sei. Sie hörten auf ihn, als Ladislav Engel sagte: «Wir müssen weg.» 

Die ersten Stunden der Flucht: Ein Pferdewagen, voll beladen mit Gepäck, zuoberst auf den Koffern sitzt ein alter Mann, der Grossvater. Der Vater plant im Voraus, wohin sie als nächstes gehen. Nach Hronec zum Beispiel – eine Erinnerung, die Betty Brenner viel abverlangt. In Hronec mussten sie den Grossvater zurücklassen, «er war damals ungefähr so alt wie ich heute». 

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Er hörte nicht mehr gut, seine Augen waren schlecht. Als sie weg waren, weiter geflüchtet zu Fuss und mit einem Ochsengespann, wurde der Grossvater verraten. Was der alte Jude denn getan habe, wollte der katholische Priester von Hronec wissen, als die Soldaten ihn aus dem Haus zerrten. Und ein Dorfbewohner, «ein sehr frommer Mann», sagte, der Grossvater könne bei ihm wohnen. 77 Jahre später sucht Betty Brenner nach Worten, findet den Satz: «Das waren keine Antisemiten, das waren einfach so Menschen.» Der Grossvater blieb am Leben.

Ein winziger Fisch pro Tag

Dezember 1944, die letzte Station. Ein Versteck im Wald, «Bunker» nennt Betty Brenner den Unterschlupf aus Holzstecken und Teerpapier, «mit Laub und Blättern getarnt». Auch andere jüdische Flüchtlinge lebten dort, eine dreiköpfige Familie, ein Paar sowie «Herr Smetana».

Nachts konnte man mit einem kleinen Ofen heizen und kochen, «tagsüber ging das nicht wegen dem Rauch». Ein Mann aus der Gegend, Ondrej,  brachte Lebensmittel, Brot, Milch, manchmal Konserven. Nicht viel, aber genug zum Überleben. Als Ondrej plötzlich nicht mehr kam, wusste niemand, weshalb.

Einmal mitten in der Nacht überfiel eine Gruppe bewaffneter Männer das Versteck: «Viele Einheimische wussten, dass in den Bergen jüdische Frauen, Männer und Kinder versteckt waren, manchmal kam es zu Überfällen.» Sie suchten nach Wertsachen, nahmen alle Uhren mit, den Goldring der Mutter und Bargeld.

Dann wurden die Lebensmittel knapp, etwas Linsen und getrocknete Bohnen waren noch da und verschimmelte Kartoffeln. «Wir assen auch Suppe aus Schnee und allem, was man im Wald finden konnte, Blätter, Wurzeln, getrocknete Beeren.» Betty Brenner erinnert sich an den Moment, als die Mutter die allerletzte Dose Ölsardinen öffnete. «Für jedes Kind gab es einen winzigen Fisch pro Tag.» 

Die Eltern? «Haben Schnee gegessen.» Obwohl er wusste, wie gefährlich das war, machte sich Ladislav Engel auf, um im Wald nach etwas Essbarem zu suchen. Herr Smetana ging mit ihm. Es lag viel Schnee, die Sonne schien, der Vater sah fast nichts, weil es ihn so blendete. Er gehe voraus, sagte Herr Smetana.

Der Vater sprach kein Wort, als er zurückkam, legte sich nur wortlos auf den Boden. So, sagt Betty Brenner, habe sie ihn noch nie gesehen, so verzweifelt und ohne Hoffnung. Herr Smetana war im Wald auf eine Mine getreten.

Am 30. März 1945 hörten sie ein Rufen, die Stimme von Maria, Ondrejs Frau. Maria wusste, dass sie in dem Wald versteckt waren, aber nicht genau, wo. Der Krieg, sagte Maria, sei zu Ende. Ondrej war denunziert und nach Deutschland in ein Arbeitslager deportiert worden, Soldaten der Wehrmacht hatten ihr Haus angezündet. 

Klara Engel wog noch ungefähr 35, der Vater 39 Kilo. Die Eltern konnten kaum noch gehen, stolperten, fielen immer wieder hin auf dem Weg. Ein rumänischer Verband der Sowjetarmee hatte die Gegend befreit, die Soldaten kochten Gulasch für die Flüchtlinge, «sie meinten es gut». Ein unterernährter Körper gewöhnt sich aber nur sehr langsam wieder an Nahrung – die Eltern bekamen so heftigen Durchfall, dass sie beinahe daran gestorben wären. 

Klara und Ladislav Engel hatten später geschwiegen, kaum je geredet über die Flucht. Als sie damals als einzige jüdische Familie nach Muráň zurückgekommen waren, hatten sie Sätze gehört wie «Ach, Ihr seid wieder da!» Und: «Ihr könnt froh sein, dass Ihr überlebt habt.» Manchmal klang es wie ein Vorwurf. 

Auch die zweite Flucht war nicht einfach. «Wir kamen mit nichts und mussten noch einmal ganz von vorne anfangen.» Aber die Bilder, die sie nicht loslassen, die Szenen, die sie im Traum vor sich sieht, «heute wieder viel mehr als früher», gehen auf die erste Flucht zurück. Neulich hat Betty Brenner wieder vom 13. Dezember 1944 geträumt, dem Tag, an dem sie in das Versteck geflüchtet waren. Sie war krank gewesen; im Traum hatte sie sich selbst gesehen, wie sie auf den Schultern des Vaters lag, sie hatte Ladislav Engel gesehen, wie er seine siebenjährige Tochter in den Wald getragen hatte.

Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des Holocaust in der Schweiz heute. 15 Porträts. Erschienen im Limmat-Verlag, 2022.Externer Link

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