Die Künste in der Schweiz – Ausblick 2023
Obwohl eine weltweite Rezession droht, Inflation und Krieg den Horizont verdüstern, sind die Aussichten der Schweizer Kunstszene gar nicht so schlecht: Neben den vielen weltberühmten Festivals und Ausstellungen stehen 2023 weitere zahlreiche Kunsthighlights auf dem Programm.
Digitale Assets, die mit Kunstwerken verknüpft sind, waren einmal der letzte Schrei. Jetzt ist der Hype vorbei. Wie SWI swissinfo.ch voraussagte, platzte die NFT-Blase lange vor dem Zusammenbruch der Kryptowährungsbörse FTX. Wie der nonfungible.com-Tracker zeigt, war das Jahr 2022 durch einen stetigen Abwärtstrend bei den Kunstverkäufen und -geschäften gekennzeichnet.
Kunstwerke machen heute nur noch 2% des NFT-Marktes aus, der Spiele, Dienstprogramme, Sammlerstücke und virtuelle Immobilien im Metaverse umfasst.
Und so waren es vor allem die digitalen Verkäufe, die zu einer Erholung des globalen Kunstmarktes in den Jahren 2021 und 2022 führten. In der ersten Hälfte 2022 wurde ein noch grösserer Umsatz erzielt als in den Jahren vor der Pandemie (7 Milliarden Dollar). Krieg, Krankheit und Inflation haben den wohlhabenden und kunstbegeisterten Eliten offenbar nicht viel ausgemacht.
Basel gibt auf dem globalen Kunstmarkt den Ton an
Hochkarätige Käufer:innen und Sammler:innen strömten 2022 in Scharen zur weltberühmten Schweizer Kunstmesse Art Basel, die in diesem Jahr erstmals ohne Covid-Beschränkungen stattfinden konnte.
Für 2023 ist ähnliches zu erwarten, allerdings kann sie inzwischen nicht mehr als Schweizer Institution gelten. Die Pandemie hat die Art Basel und ihre anderen Markenmessen (Hongkong und Miami) schwer getroffen und dazu geführt, dass ihre Mutterholding, das internationale Live-Marketing-Unternehmen MCH, 44% ihrer Aktien an James Murdoch, den Sohn des milliardenschweren Medienmoguls Rupert Murdoch, verkauft hat.
Mehr
Was die Schweiz erwartet: Aussichten für die Wirtschaft 2023
Murdochs private Investmentfirma Lupa Systems investierte im August 2020 48 Millionen Franken in die MCH, stabilisierte die Finanzen und lenkte die Expansionsstrategie weg von lokalen Kunstmessen. Die traditionelle Uhren- und Schmuckmesse Baselworld wurde bereits Anfang 2020 gestrichen.
Die Zukunft der Art Basel in Hongkong ist wegen der restriktiven chinesischen Behörden ohnehin ungewiss. Deshalb hat sich MCH mit der Eröffnung eines neuen Veranstaltungsortes namens Paris+ par Art Basel in der französischen Hauptstadt neu aufgestellt.
Wie auch immer es ausgeht: Die Basler MCH wird 2023 den Ton für die wichtigsten Kunstmessen der Welt angeben und der Schweiz neue Höhepunkte bescheren.
Von Kontroversen bis zu Retrospektiven
Ein heisses Thema waren 2022 die Kunstrestitutionen. Schweizer Museen mussten sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sie mit NS-Raubkunst umgehen sollen.
Die hitzige Debatte über die Herkunft von Kunstwerken aus der Sammlung des Schweizer Rüstungsmagnaten Emil Bührle hat sich abgekühlt, aber zu keiner optimalen Lösung geführt. Die Bührle-Kontroverse führte zu einem Vorstoss im Schweizer Parlament, eine unabhängige Kommission zum Umgang mit Kunst aus dem Besitz von Verfolgten des Nationalsozialismus einzusetzen.
Die aktuelle Debatte dreht sich nun um die juristische Terminologie: Die Motion hatte gefordert, dass nicht mehr strikt unterschieden wird zwischen von den Nazis geraubter Kunst und Werken, die deren Opfer unter Druck zu einem zu tiefen Preis verkaufen mussten – also keine Unterscheidung zwischen Raubkunst und Fluchtgut gemacht wird. Der Bundesrat empfahl die Motion in einer abgeänderten Fassung zur Annahme, die entsprechende Passage fiel raus.
In der Zwischenzeit hat das Kunstmuseum Bern, das auch die berüchtigte Gurlitt-Sammlung beherbergt, seine ethischen und rechtlichen Überlegungen zur internationalen Provenienzforschung vorgestellt. Die Ausstellung «Gurlitt. Eine Bilanz» ist noch bis zum 15. Januar zu sehen. Der transparente Ansatz des Berner Museums steht in krassem Gegensatz zu jenem seines Zürcher Pendants in Bezug auf die Sammlung Bührle.
Mehr
Zürcher Kunsthaus: Ein «kontaminiertes Museum»?
Das Kunstmuseum Zürich war froh, die Kontroversen hinter sich zu lassen und widmete sich 2022 den unverfänglicheren zeitgenössischen Schweizer Künstler:innen der sogenannten 68er-Generation. Nach einer sorgfältigen Retrospektive von Jean-Frédéric Schnyder wandte es sich den Werken von Markus Raetz zu, einem zu Unrecht übersehenen Künstler, der 2020 verstorben ist.
Das Programm des Museums für das Jahr 2023 verfolgt eine kantigere, zeitgenössische Linie. Im Mittelpunkt steht eine Ausstellung über den belgischen Dichter Marcel Broodthaers (1924-1976), einen der originellsten Denker über die Prinzipien der Kunst und die Funktion des Museums. Das Museum eröffnet seine Sammlung von Broodthaers› grafischen Werken, Fotografien und Filmen. Sie ergänzt eine kürzlich im MASI MuseumExterner Link in Lugano gezeigte Ausstellung seiner so genannten industriellen Gedichte.
Eine weitere sehenswerte Ausstellung im Kunsthaus Zürich verwebt westliche und islamische Kunst: «Re-OrientationsExterner Link: Europa und die islamischen Künste, 1851 bis heute «. Und schliesslich sollte man angesichts des Krieges in Europa die Retrospektive der deutschen Künstlerin Käthe KollwitzExterner Link (1867 –1945) nicht verpassen, die für ihre erschütternden Darstellungen von Gewalt und Unterdrückung zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg bekannt ist.
Ukrainische Kunst im Exil
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat in der Kunstwelt einen grossen Widerhall gefunden.
Der Nationalen Kunstgalerie von Kiew ist es gelungen, einen grossen Teil ihrer Sammlung in westlichen Institutionen in Sicherheit zu bringen. Das Genfer Museum für Kunst und Geschichte zeigt (bis zum 23. April) «Du Crépuscule à l’AubeExterner Link» (Von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen), eine Auswahl von Meisterwerken des ukrainischen Kunsterbes, die durch das Prisma des Kampfes zwischen den Kräften des Lichts und der Dunkelheit kuratiert wurde.
Das Museum der bildenden Künste Basel zeigt eine weitere Auswahl aus der Kiewer Galerie: «Born in UkraineExterner Link«. Die ausgestellten Werke spiegeln die Kämpfe um die ukrainische nationale Identität wider, die jahrhundertelang von Russland unterdrückt wurde – von der Zarenzeit bis zum stalinistischen Regime und nun erneut.
Ukrainer:innen erobern auch die Schweizer Bühnen. Das Schauspielhaus Zürich zeigte im Dezember das Stück «Bad RoadsExterner Link«. Die Produktion des Kiewer Theaters Left Bank Theatre drehte sich um die vom Krieg zerrissene Ukraine, die seit dem Einmarsch Russlands in ganz Europa aufgeführt wird. Der künstlerische Leiter des Kiewer Theaters, Stas Zhyrkov, kehrt im Mai mit seiner Version von Antigone nach Zürich zurück.
Ausländische Stars auf der Bühne
Trotz schwindender Zuschauer:innenzahlen – ein Phänomen, das Kinos, Theater und die darstellenden Künste im Allgemeinen seit Beginn der Pandemie plagt – hat das SchauspielhausExterner Link in ein breiteres internationales Programm mit mehreren ausländischen Regisseur:innen in Residence investiert. Das Programm für 2023 sieht besonders vielversprechend aus.
Der amerikanische Choreograf Trajal Harrell, der 2020 das allererste Tanzstück im Zürcher Theater inszenierte, wird im April mit «The Romeo» zurückkehren. Angekündigt wird ein Tanz: «Stellen Sie sich diesen Tanz vor, den Menschen aller Herkünfte, Geschlechter und Generationen, aller Temperamente und Stimmungen tanzen, wenn sie ihre Tragödien hinter sich gelassen haben und nur noch tanzen. Trajal Harrell wird ihn nun nach Zürich bringen.»
Das Zürcher Theater zeigt zudem bis April eine Version von «PinocchioExterner Link» des amerikanischen Filmemachers, Künstlers und Performers Wu Tsang. Die Performance mit einer Mischung aus Bewegung, Poesie, Musik und virtueller Realität ist auch für Kinder ab 7 Jahren geeignet. Und last but not least schliesst die gefeierte brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy im Februar ihre Anti-Bolsonaro-«Trilogie des Grauens» mit «After the Silence» ab.
In der frankophonen Schweiz hat das Ballett des Grand Théâtre de Genève (Genfer Oper) den belgisch-marokkanischen Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui für die Saison 2022-23 verpflichtet. Cherkaoui ist wahrscheinlich einer der bemerkenswertesten aufstrebenden Stars der zeitgenössischen Tanzszene. Er bringt sein vielbeachtetes «SutraExterner Link» nach Genf, das er mit dem britischen Bildhauer Antony Gormley und Mönchen des Shaolin-Tempels in China geschaffen hat.
Eine Goldgrube an Schweizer Filmen
SWI-Filmkorrespondent Max Borg berichtet, dass die Solothurner Filmtage (18.-25. Januar) das Beste aus den jüngsten Schweizer Produktionen zeigen werden.
Ursula Meiers The Line (La Ligne), der an der Berlinale 2022 viel Lob erntete, kommt im In- und Ausland in die Kinos. Er ist bereits jetzt ein starker Anwärter auf einen Platz unter den Schweizer Oscar-Kandidaten für die Academy Awards 2024. Michael Kochs Drii Winter, der in den Deutschschweizer Kinos bereits erfolgreich lief, wird auch in den übrigen Ländern gezeigt.
Die nächste Ausgabe der Berliner Filmfestspiele (Berlinale) hat bereits einen Schweizer Beitrag in ihrer Auswahl angekündigt: Jenna Hasses Sehnsucht nach der Welt (L’Amour du monde). Für Hasse, eine junge Regisseurin, die mit ihren Kurzfilmen bereits Festival-Erfolge – unter anderem in Cannes – feiern konnte, ist dies ein Debüt in der Kategorie Spielfilm.
Ebenfalls zur Veröffentlichung vorgesehen sind Blackbird Blackbird Blackberry von Elene Naveriani – die mit ihrem Locarno-Beitrag Wet Sand zu den grossen Entdeckungen des Jahres 2021 gehörte – und Electric Child von Simon Jaquemet, der 2018 mit The Innocent (Der Unschuldige) Toronto und San Sebastián im Sturm eroberte.
Ob Sie nun eine Vorliebe für Film oder Kunst haben, die Schweiz wird Sie im Jahr 2023 nicht enttäuschen.
Adaptiert aus dem Englischen von Sibilla Bondolfi
Mehr
Das erwartet die Schweiz: ein politischer Ausblick auf 2023
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch