Die Magie von Locarno
Legendär für seine Atmosphäre, kommerziell aber weit weniger interessant als Cannes, Venedig oder Berlin: Der Trumpf von Locarno bleibt sein Publikum.
Seit Mittwoch steht Locarno wieder im Banne der siebten Kunst. Am 56. Internationalen Filmfestival sind mehr Filme zu sehen denn je.
Weder Cannes, Venedig noch Berlin. Wer in Locarno künftige Blockbuster und Kassenschlager sehen will, ist eindeutig am falschen Ort:
«Die Entdeckungen, die ein Festival wie Locarno zu machen versucht, interessieren den Kinomarkt nicht», betont Daniel Hitzig, Filmclub-Moderator beim Schweizer Fernsehen SF DRS. «Ein Taiwanese zum Beispiel, der in Locarno den Goldenen Leoparden gewinnt, ist in der Regel morgen schon wieder vergessen.»
Dennoch strömen jedes Jahr Tausende von Filmbegeisterten ins Tessin, drängen sich in die vielen Säle und versuchen nach dem Eindunkeln einen Platz für die legendären Vorführungen unter dem Sternenhimmel auf der Piazza Grande zu ergattern.
Entdeckungslust
«Es erstaunt mich immer wieder, wie sich die Besucherinnen und Besucher auf Ungewohntes und Unbekanntes einlassen», sagt der italienische Filmkritiker und Locarno-Kenner Antonello Catacchio.
Locarno sei geprägt von Entdeckungslust und unter den grossen Festivals sicher das alternativste. «Ich weiss nicht, ob der Mangel an grossen Filmen nicht eher ein Vor- als ein Nachteil ist.»
Sicher sei, dass Locarno im Vergleich mit Cannes, Venedig oder Berlin eindeutig die stärkste Publikumsbeteiligung habe. «Die Trumpfkarte von Locarno ist sein Publikum.»
Kein Business-Festival
Durch die einzigartige Stimmung ist Locarno aber auch für Produzenten kleinerer und mittlerer Filme interessant. «Locarno hat ein gutes Niveau, um kleine Filme herauszubringen und eine gewisse Aufmerksamkeit zu erregen», erläutert Samir, Schweizer Filmemacher und Mitbesitzer der Produktionsfirma Dschoint Ventschr.
Locarno stehe in guter Konkurrenz zu den vergleichbaren Festivals von Rotterdam und San Sebastian. «Wäre Locarno nicht wichtig, hätten wir nicht vier Filme dort», unterstreicht Samir die Bedeutung des Festivals.
Der Vorteil von Locarno sei die ungezwungene Ferien-Atmosphäre. «Locarno ist nicht das Business-Festival. Die Leute kommen, weil es ihnen hier gut geht, und dies hilft wiederum dem Business.» In Locarno könne man Leute des internationalen Filmgeschäfts treffen, die an andere Festivals dieser Grössenordnung nicht gehen würden.
Seiner Tradition verbunden
Locarno bietet Schweizer Produzenten daher eine gute Möglichkeit, um ihre Filme gegenüber dem Ausland bekannt zu machen. Zum Problem wird allerdings die Programmfülle: «Damit ein Film nicht untergeht, muss man genau darauf achten, in welchem Rahmen er am Festival gezeigt wird.»
Denn das Angebot von Locarno wächst stetig, allein die diesjährige Jazz-Retrospektive umfasst 116 Filme. Droht Locarno am Überangebot zu ersticken? Nein, gerade dieser Reichtum garantiere die Publikumsvielfalt, verteidigt Filmkritiker Catacchio die Programmfülle.
Doch trotz wachsendem Angebot, Programmdirektorin Irene Bignardi führt die Tradition des Festivals weiter: Filme aus der Dritten Welt und soziale Themen haben im Wettbewerb eine grössere Chance als andernorts. Weniger präsent ist innovatives westliches Kino, das in Rotterdam zu sehen ist und klassisches Erzählkino, für welches San Sebastian steht.
«Es ist schwierig, sich als ein anderes Cannes oder Venedig zu profilieren», erklärte die Festivaldirektorin Bignardi anlässlich der Präsentation ihres Programms. Besser sei es die Tradition von Locarno, die einer bestimmten Art von Kino eine Stimme geben will, zu respektieren. «Problematisch wird es erst, wenn man etwas sein will, was man nicht ist.»
Gefährdetes Profil?
Dennoch könnte Locarno an Profil verlieren. In den Achtzigerjahren wurde das Festival berühmt, weil dort praktisch alle neuen Talente entdeckt wurden. Damals reüssierten in Locarno Filmemacher wie Jim Jarmusch oder Atom Egoyan.
Dies war das Resultat der Beschränkung auf Erstlingsfilmer und ihre ersten oder zweiten Werke, die sich das Festival auferlegte. Doch diese Beschränkung gibt es heute nicht mehr.
«Man kann sich fragen, ob diese Entscheidung von Bignardi richtig war», erklärt Samir. «Natürlich gibt dies der Direktorin mehr Freiheiten, doch könnte das Festival dadurch an Profil verlieren.» Für ein endgültiges Urteil sei es jedoch noch zu früh.
swissinfo, Raffaella Rossello und Hansjörg Bolliger
Das Internationale Filmfestival Locarno dauert vom 6. – 16. August 2003
Im internationalen Wettbewerb stehen 20 Filme aus 17 Ländern.
Schweizer Filme in Locarno
Internationaler Wettbewerb:
Au sud des nuages – Jean-François Amiguet
Piazza Grande:
Genève – Marseille – Frédéric Choffat
Ixième – Pierre-Yves Borgeaud, Stéphane Blok
Cinéastes du Présent:
Skinhead Attitude – Daniel Schweizer
Human Rights-Sondervorführung:
Ni Olvido Ni Perdon – Richard Dindo
All That Jazz:
Tschäss – Daniel Helfer
Der Ehrenleopard 2003 geht an Ken Loach. Der britische Regisseur ist bekannt für sein Filmschaffen über soziale Ungerechtigkeiten.
Den Preis Raimondo Rezzonico, der in Erinnerung an den verstorbenen Ex-Festivalpräsidenten verliehen wird, bekommt Ruth Waldburger. Die Schweizerin wird damit als unabhängige Produzentin ausgezeichnet.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch