Die Schweiz ist viel mehr als Enzian und Blocher
Aus Distanz habe er die Erosion des Freisinns und den Aufstieg der rechtskonservativen SVP nicht so klar registriert wie jetzt vor Ort. – Das sagt Gerd Zitzelsberger im Interview mit swissinfo.
Zitzelsberger lebte während neun Jahren als Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung in London. Seit August 2007 berichtet er aus der Schweiz.
swissinfo: Sie leben erst seit wenigen Wochen in der Schweiz. Wie haben Sie den Umzug nach Zürich erlebt?
Gerd Zitzelsberger: Es war natürlich ein bisschen bürokratischer als in London. In London fangen Sie einfach an zu arbeiten. In der Schweiz muss man sich anmelden und viele administrative Dinge erledigen. Die Behörden sind allerdings sehr zuvorkommend.
Die Schweiz ist wirtschaftlich ein Hightech-Land und ist auch im Financial Engineering Spitze. Sie ist ein weltoffenes Land. Im privaten Bereich erlebe ich fast ausschliesslich positive Reaktionen.
swissinfo: Haben Sie im Herbst 2003 mitbekommen, dass in der Schweiz Wahlen sind?
G.Z.: Mitbekommen schon, aber nur am Rande. Jeder in London hat sich gedacht, dass in der Schweiz ungefähr alles beim Alten bleibt. Damit war jeder zufrieden und ging zur Tagesordnung über.
swissinfo: Welchen Stellenwert nehmen die Wahlen vom 21. Oktober bei der Süddeutschen Zeitung ein?
G.Z: Für uns sind wirtschaftliche Themen aus der Schweiz wichtiger als politische. In Deutschland hat man das Gefühl, dass es in der Schweizer Politik eine sehr grosse Kontinuität gibt.
Auch wer nicht alle Facetten kennt, weiss, dass es in der Schweiz das Konsens-Prinzip gibt. Man erwartet keinen Erdrutsch.
Im Ausland hat man die Kräfteverschiebungen über die letzten Jahre und Jahrzehnte, das Abschmelzen des Freisinns und das Erstarken der SVP nicht so stark mitbekommen.
swissinfo: Ausländische Medien nehmen den Wahlkampf vor allem über die Kampagne der SVP wahr. Der Spiegel ortet Rassenhass und braunes Gedankengut. Gehen Sie auch so weit in Ihren Einschätzungen?
G.Z.: Nein – definitiv nicht. Ich würde Blocher mit Franz Josef Strauss vergleichen, nie mit Haider oder Berlusconi.
Was für uns ein bisschen ungewohnt ist, ist die Dominanz der SVP im Wahlkampf mit Plakaten, Inseraten und in der ganzen öffentlichen Diskussion.
Mich erstaunt, dass die Finanzierung dieses Wahlkampfes nicht klar ist. Ich weiss nicht genau, warum gewisse Parteien so wenig machen können und andere so viel.
In der Schweiz gibt es keine Transparenz-Vorschriften über Parteien-Finanzierung. Das finde ich schade.
swissinfo: Blocher ist Protestant und ehemaliger Industrieller, Strauss war Katholik und sein Berufsleben lang Politiker. Wo liegen die Gemeinsamkeiten?
G.Z.: Beide sind hemdsärmlige Machtmenschen und verkürzen komplexe Probleme auf sehr einfache Antworten. Bei uns in Bayern würden wir sagen «mir san mir» – das ist auch die Position von Christoph Blocher.
Beide haben kein einfaches Verhältnis zum Rechtsstaat. Mich würde es sehr freuen, wenn die Schweiz, die für uns ja ein Musterstaat an Demokratie ist, auch ein Musterstaat an Rechtsstaatlichkeit ist und bleibt.
Schwierig ist es, wenn die Schweiz die europäischen Menschenrechte anerkennt und sie im Einzelfall doch nicht haben will. Dann, wenn die direkte Demokratie wichtiger wird.
Ich denke an die Verwahrungs-Initiative und damit an die Möglichkeit der Inhaftierung auf Lebenszeit ohne Berufungs-Möglichkeit. Es geht nicht um die Zahl der Fälle, sondern ums Prinzip. Für das Ausland ist es wichtig, zu sehen, dass die Menschenrechts-Konvention auch den Schweizern heilig ist.
swissinfo: Der SVP ist es gelungen, den Wahlkampf auf die Frage «Blocher ja oder nein?» zu reduzieren. Wie nehmen Sie den Wahlkampf der andern Parteien wahr?
G.Z.: Ich bin als Journalist getrimmt darauf, alle Parteien gleichmässig wahrzunehmen. Aber es fällt mir schwer, zentrale Wahlkampfaussagen heraus zu kristallisieren.
Aus meiner Sicht haben es die andern Parteien schwer, sich auf Kernthemen zu konzentrieren, die das Land wirklich bewegen.
Denken Sie an die Christdemokraten. Die Partei scheint mir auf der einen Seite sehr fortschrittlich zu sein. Es gibt aber auch Abgeordnete, die ihren Namen für Inserate hergeben, deren Botschaft eindeutig auf die SVP ausgerichtet ist. Das ist erstaunlich.
swissinfo: Wie weit haben Sie den Eindruck, dass Themen wie die Klimafrage in der aktuellen Debatte überhaupt eine Rolle spielen?
G.Z.: Dass die Klimafrage in der Schweiz so hoch gespielt wird, verstehe ich nicht ganz. Ich nehme die Schweiz als sehr grünes Land war. Sie ist in vielen Beziehungen vorbildlich für die Umwelt. Nirgends, ausser in Japan, fahren die Leute so gerne mit der Eisenbahn.
Ich sehe Umwelt nicht so sehr als zentrales Thema. Es scheint quer durch das Land einen Konsens zu geben, dass Umwelt wichtig ist. Ausserdem ist die Schweiz ein kleines Land, und das Thema wird in Indien oder in China entschieden.
swissinfo: Wagen Sie eine Prognose für den Ausgang der Wahlen?
G.Z.: Ich vermute, dass die SVP deutlich mehr Abgeordnete haben wird als jetzt. Nach allen Prognosen werden die Grünen auch zulegen, aber politisch relevanter wird sein, dass die SVP zulegen wird.
swissinfo: Mit welchen Konsequenzen?
G.Z.: Als ich zum ersten Mal ins Ausland ging und die Leute gehört haben, dass ich aus Bayern komme, sind ihnen drei Dinge eingefallen: Oktoberfest, Lederhosen und Franz Josef Strauss.
Ich fürchte, dass es der Schweiz ähnlich ergehen könnte, indem irgendwann Ausländern Enzian und Blocher einfallen werden.
Das fände ich nicht gut. Blocher repräsentiert die Schweiz nur zu einem kleinen Teil. Ich glaube, dass Micheline Calmy-Rey, Doris Leuthard oder Hans-Rudolf Merz auch das Bild der Schweiz im Ausland prägen sollten.
swissinfo-Interview: Andreas Keiser
Geboren am 3. Oktober 1950 in Eichstätt, Bayern.
1975: Abschluss als Diplom-Volkswirt an der Uni München.
Bis 1980: Wissenschaftlicher Assistent am Volkswirtschaftlichen Institut der Technischen Universität Berlin.
Bis 1987 Wirtschaftskorrespondent für die Frankfurter Rundschau und regionale Tageszeitungen. Zuständig für West-Berlin und die DDR.
Seit 1987: Redaktionsmitglied der Süddeutschen Zeitung, München:
1987 – 1995 Wirtschaftsredaktion
1995 – 1998 Leiter eines Fax- und Internet-Projekts
1998 – 2007 Wirtschafts-Korrespondent in London
Seit Sommer 2007: Auslandskorrespondent in Zürich mit Zuständigkeit für die Schweiz und in der Schweiz beheimatete internationale Organisationen.
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