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Die Türkei zensiert Schweizer Kulturfestival

Die tanzenden Derwische aus Konya pflegen das Erbe der klassischen Sufi-Musik - für einmal in der Schweiz.

Das Festival "Culturescapes" präsentiert ab 1. November in acht Schweizer Städten kulturelle Landschaften der Türkei. Auf Druck des türkischen Kulturministeriums wurden in letzter Minute fünf Essays von Türkei-Kennern und ein Film aus dem Programm gekippt.

«Die Türkei vergibt eine Chance», sagt Amalia van Gent, Türkei-Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung, gegenüber swissinfo. Sie versteht nicht, warum ihr Text, den sie für die Programmzeitung des Festivals geschrieben hatte, der Zensur zum Opfer fiel.

«Ich versuche darin, die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der letzten zehn Jahre in der Türkei darzustellen und ziehe eine relativ positive Bilanz, bei allen negativen Nebengeräuschen», sagt die Journalistin, die seit vielen Jahren in Istanbul und Athen lebt.

Als sie von der Zensur gehört habe, sei sie schockiert gewesen. «Ich konnte kaum glauben, dass der lange, dunkle Arm der Türkei bis in die Schweiz reicht», sagt Amalia van Gent. Erst vor zwei Wochen habe sich das Land an der Frankfurter Buchmesse unter dem Motto «faszinierend farbig» pointiert modern, multikulturell und weltoffen präsentiert.

Widersprüchliche Türkei

Die Journalistin, die gerade mit ihrem neuen Buch «Leben auf Bruchlinien – Die Türkei auf der Suche nach sich selbst» in der Schweiz auf Lesetour geht, ist enttäuscht von diesem Rückschlag. Neben ihrem Text wurden vier weitere aus dem Programm gekippt, darunter auch der Essay von Kai Strittmatter, Korrespondent des Tages-Anzeigers und der Süddeutschen Zeitung.

Auch er ist verblüfft über die Zensur, zumal er «ein vorsichtig optimistisches Fazit der türkischen Entwicklung zieht», wie er gegenüber swissinfo sagt. Das verbliebene Programm zeige immer noch einen hervorragenden Querschnitt durch die moderne, junge, offene Türkei.

«Da steht noch immer der Pianist Fazil Say, der die Regierung in Ankara schwer angegriffen und damit einen Skandal ausgelöst hat. Und da steht ausserdem das Stück ‹Mehmet liebt Baris› über einen schwulen Kurden, der den Wehrdienst verweigert – für türkische Bürokraten alten Zuschnitts sind das gleich drei Tabus in einem Satz», so Strittmatter weiter.

Stellungnahme der türkischen Botschaft

«Culturescapes» steht unter dem Patronat des schweizerischen Bundespräsidenten Pascal Couchepin und des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül. «Es ist ein Anlass, eher unbekannte Aspekte der Türkei zu entdecken und den kulturellen Reichtum in Literatur, Film, Bühnenkunst und besonders in der Musik kennenzulernen», schreibt Couchepin im Grusswort des Programms.

Für eine Stellungnahme zu den Zensurvorwürfen war im Departement des Inneren am Freitag niemand erreichbar.

Dagegen gab die türkische Botschaft am Freitagabend in einer Stellungnahme bekannt, sie teile die Kritik «einiger Kreise» am Programm nicht und habe deshalb zu vermitteln versucht. Ausserdem warnte sie davor, das Festival mit «destruktiver Kritik» zu schädigen, bevor es überhaupt begonnen habe.

Festival wäre kollabiert

Das türkische Kulturministerium hatte mit Subventionsentzug gedroht, wenn die fünf Essays und der türkische Film «Gitmek» nicht vom Programm genommen worden wären. Der Festivalleiter Jurriaan Cooiman wollte die Durchführung nicht gefährden, deshalb gab er dem Druck nach.

Das von der Schweiz und der Türkei mit je 400’000 Euro finanzierte Festival wäre kollabiert, wenn die Türkei ihren Beitrag zurückgezogen hätte.

Zensur hin oder her

Sowohl Amalia von Gent wie auch Kai Strittmatter vermuten, dass die «Programmsäuberung» auf den persönlichen Entscheid eines subalternen Mitarbeiters des Kulturministeriums zurückzuführen sei.

Der türkische Film «Gitmek», welcher der Zensur zum Opfer fiel, erzählt die Geschichte einer Türkin, die sich in einen Kurden aus dem Nordirak verliebt. Die mit dem Festival kooperierenden Kinos in Basel, Bern und Zürich haben am Freitag mit Entrüstung auf den Zensurversuch reagiert. Sie werden den Film dennoch zeigen – Zensur hin oder her.

swissinfo, Susanne Schanda

Das Festival findet vom 1. 11. – 6. 12. 2008 in Basel, Bern, Chiasso, Chur, Genf, Luzern, Zürich und Uster statt.

Den Auftakt machen ein Symposium über illegales Bauen und Stadtentwicklung und ein Konzert von Burhan Öcal und dem Istanbul Oriental Ensemble am Samstag in Basel.

Ein weiterer Höhepunkt ist ein Auftritt der tanzenden Derwische aus Konya zu traditioneller Sufi-Musik in Basel und Uster.

Das Taksim-Trio spielt seine Sounds zwischen orientalischer Tradition, Jazz, Ambient und Avantgarde in Bern, Basel und Zürich.

Der populäre Musiker Mercan Dede verbindet traditionelle Sufiklänge seiner Ney-Flöte mit elektronischem Sound. In Bern, Basel, Chur, Chiasso, Zürich, Genf und Luzern spielt er zusammen mit dem Schweizer Duo Stimmhorn.

Der junge Schriftsteller Murat Uyurkulak stellt sein furioses Erstlingswerk «Zorn» vor – in Bern, Basel, Chur, Uster, Winterthur und Zürich.

Finanziert wird das Festival vom türkischen Kulturministerium, dem Eidg. Departement des Innern, dem Bundesamt für Kultur, der Stiftung Pro Helvetia, dem Migros-Kulturprozent.

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei waren jahrelang wegen der Menschenrechtslage in der Türkei und unterschiedlichen Positionen in der Armenier- und Kurdenfrage angespannt.

Das Verhältnis hat sich dieses Jahr entspannt. Seit Mai 2008 finden zwischen der Türkei und Armenien Gespräche unter Schweizer Vermittlung statt.

Zur Zeit weilt die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey am Weltwirtschaftsforum in Istanbul.

Für November 2008 sind Besuche von Wirtschaftsministerin Doris Leuthard und Innenminister Pascal Couchepin in der Türkei vorgesehen.

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