«Für einen Liter Wodka verheiratet»
Bis am 23. April findet in Nyon das internationale Filmfestival "Visions du Réel" statt. Der schweizerisch-russische Dok-Film "La mère" zeichnet das Bild einer Frau, die im heutigen Russland ums Überleben ihrer Familie kämpft.
In der russischen Weite kämpft sich ein kleiner Junge durch den Schnee. Starker Wind weht ihm entgegen. Der Schirm bietet dem Jungen keinen Schutz, die Böen blasen ihn mal vor, mal hinter seinen Kopf. Trotzdem hört der Junge nicht auf zu singen – bis er stolpert und stürzt.
Die Anfangsszene von «La mère» ist symbolisch für den ganzen Film des Schweizers Antoine Cattin und des Russen Pavel Kostomarov, der dieses Jahr am internationalen Filmfestival «Visions du Réel» in Nyon in der Kategorie «Regards neufs» gezeigt wurde.
Es ist ein Dokumentarfilm über den täglichen Kampf ums Überleben und die Kraft, die Menschen allen widrigen Umständen zum Trotz immer wieder aufbringen.
Kinder weggeben
Während drei Jahren haben die beiden jungen Regisseure bei Lioubov gelebt, einer Mutter von neun Kindern. Liobouv, die mit ihrer ältesten Tochter Alessia in einer Kolchose im Norden Russlands schuftet, um die Familie über die Runden zu bringen.
Lioubov ist krank, doch für eine Arztbehandlung fehlt ihr das Geld. Der einzige Rat den sie von den Ärzten zu hören bekommt, ist, sie solle doch die Kinder ins Heim bringen.
Das kommt für sie nicht in Frage. Sie habe sich immer viele Kinder gewünscht, wenigstens dieser Wunsch habe sich erfüllt, sagt Lioubov, deren Name auf Deutsch soviel wie Liebe bedeutet.
Männer sind abwesend
«Als ich 14 Jahre alt war, hat mich meine Mutter für einen Liter Wodka mit einem Mann verheiratet. So begann mein Frauenleben», sagt sie. Später flüchtete sie mit ihren Kindern vor ihrem gewalttätigen Mann. Um sich und die Kinder zu ernähren, stahl sie Gemüse und Früchte aus den Gärten.
«In der Unterschicht zeigt sich die männliche Dominanz in aller Härte, aber es handelt sich da nicht nur um ein russisches Problem», sagt Autor Cattin.
Die Männer sind den Frauen keine grosse Hilfe, sie sind im Film praktisch abwesend: Der älteste Sohn von Lioubov sitzt im Gefängnis. Auch der Mann von Tochter Alessia muss schon kurz nach der Hochzeit eine Haftstrafe absitzen. Und der zweitälteste Sohn träumt von der Armee, wenn er sich nicht gerade mit seinen Kumpels betrinkt.
Auch die Mutter des 3-jährigen Sascha, die ebenfalls in der Kolchose arbeitet, ist auf sich allein gestellt. Im Gegensatz zu Lioubov kümmert sie sich jedoch kaum um ihr Kind. Von seiner Mutter vernachlässigt, entwickelt der Kleine eine fast erschreckende Selbstständigkeit. Die Mutter bringt Sascha, der an Mangelerscheinungen leidet, schliesslich ins Spital. Das bringt ihr mehr Geld ein, als wenn sie ihn zu Hause pflegen würde, wie sie sagt.
Gewisse Freiheiten
Der mit zwei Kameras gedrehte Dokumentarfilm von Cattin und Pavel ist kein Dok-Film im herkömmlichen Sinn. Der Film erklärt nicht, er überlässt es dem Zuschauer, die Zusammenhänge herzustellen.
Wie bereits in ihrem letzen Dok-Film «Vivre en paix», der von einem tschetschenischen Vater und seinem Sohn handelt, zeigt auch «La mère» ungeschminkt die Schwierigkeiten des heutigen Russlands auf. Wie ist es angesichts der herrschenden Zensur in Russland möglich, solche Filme zu drehen? Bis jetzt sei er keinem politischen Druck ausgesetzt, sagt Cattin.
Es bestehe im Filmbereich noch eine gewisse Freiheit. Die Filme, mit denen er und Pavel in Russland verschiedene Preise gewonnen haben, hätten bisher ohne Probleme an Festivals gezeigt werden können. Doch Cattin befürchtet, dass es auch hier aus Angst vor Repression zunehmend zur Selbstzensur kommen könnte.
«Für die Regierung sind wir keine Gefahr. Im Vergleich zum Fernsehen, das in Russland omnipräsent ist, erreichen wir mit unseren Filmen an den Festivals nur ein kleines Publikum», so Cattin.
Gemäss Cattin ist es jedoch unvorstellbar, dass ihre Filme am russischen Fernsehen gezeigt würden, dort sehe man höchstens Putin beim Fischen. Für die Nichtausstrahlung hätte das Fernsehen die russische Vulgärsprache «Mat» als Vorwand gebracht, die auch in «La mère» gesprochen wird, und die in den Medien unter Zensur steht. Diese Vulgärsprache, von Intellektuellen etwa unter Freunden und nicht vor Kindern benützt, wird in Russland stark tabuisiert.
Nicht als Ausländer wahrgenommen
Er gelte in Russland als renommierter russischer Dokumentar-Filmer, obwohl er Schweizer sei, sagt Cattin. Auch in der Familie von Lioubov sei er nie als Ausländer wahrgenommen worden. Die Leute hätte es nicht interessiert, woher er komme. Vielmehr wollten sie wissen, ob er verheiratet sei oder eine Familie habe. «Wir waren einfach die, die aus der Stadt kamen.»
Zum Schneiden des Films sind die beiden Regisseure jeweils vom Land nach Moskau gefahren. «Es war, als würden wir eine Jahrhundertreise machen», so Cattin.
Während ihres Aufenthalts bei Lioubov hätten sie der Familie mit Lebensmitteln und Kleidern geholfen, so weit sie konnten. Wenn man einen solchen Film drehe, beeinflusse man in gewisser Weise das Leben der Protagonisten, ob man wolle oder nicht, sagt Cattin. «Doch wenn man bei jeder Gelegenheit ins Leben der gefilmten Personen eingreifen will, muss man den Beruf wechseln.»
swissinfo, Corinne Buchser, Nyon
Die 14. Auflage von «Visions du Réel» in Nyon dauert vom 17. bis zum 23. April 2008.
«Visions du Réel» in Nyon zählt mit den Filmfestivals in Locarno und Solothurn zu den drei grössten Filmfestivals der Schweiz.
Es werden 155 Filme aus 36 Ländern gezeigt; 22 stehen im Wettbewerb, davon 2 aus der Schweiz.
Es gibt 10 Kategorien, eine davon ist «Regards neufs». «Regards neufs» stellt junge Talente vor.
Im Rahmen von «Doc Alliance» läuft in Nyon insbesondere der vom Dokumentarfilmfestival Leipzig ausgewählte Film «La mère».
2007 besuchten rund 25’000 Zuschauer das Festival.
Das Budget beläuft sich auf 2,1 Mio. Franken.
Antoine Cattin ist 1975 in Saignelégier geboren. Er studierte an der Universität Lausanne Geschichte, Filmwissenschaften und Russisch. Seit 2002 lebt er in Russland.
Im Moment überlegt er sich, in die Schweiz zurückzukehren. In Russland, wo er als Regisseur bekannt sei, habe er zwar zurzeit beruflich mehr Möglichkeiten als in der Schweiz, sagt Cattin. Gleichzeitig mache ihm die Politik in Russland zu schaffen.
Pavel Kostomarov ist 1975 in Moskau geboren. Er ist ausgebildeter Kameramann.
2003 Transformator
2004 Vivre en paix
2007 La mère
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