Hotelpaläste zwischen Kunst, Kitsch und Kommerz
Hotelpaläste, lange als "kitschige Kästen" nur wenig beliebt, sind inzwischen zur geschätzten historischen Bausubstanz der Alpen und Städte geworden.
Roland Flückiger legt sein zweites Buch zu den historischen Hotels der Schweiz auf.
Prachts-Bauten – Prachts-Umsätze
Heute mögen diese Gebäude aus der Zeit zwischen 1880 bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem kunsthistorisch faszinieren. Doch der wahre Grund dieses Immobilien-Reichtums liegt anderswo: Die Hotellerie in der Belle Epoque steht nicht nur für vergangene Prachts-Bauten, sondern auch für vergangene Prachts-Umsätze, Gewinne und Rieseninvestitionen in Immobilien – eine lang dauernde und nie mehr erreichte touristische Blütezeit für die Schweiz.
Flückiger leuchtet in seinem Buch auch aus, wie mit den Hotels der Belle Epoque ein epochaler wirtschaftlicher Aufschwung in den Bergen und eine erste Globalisierung der Alpen-Wirtschaft stattfand.
Der heutige Leser, an den Schweizer Hotel-Tourismus als eine ewig stagnierende Branche im Niedriglohnbereich gewohnt, muss sich bei der Lektüre des Buches umorientieren: «Um die Jahrhundertwende finden sich kaum Orte, die vom damals überstürzten Wachstum nicht profitieren konnten», schreibt Flückiger.
«Die Schweiz ist das Land mit dem dichtesten Netz an historischen Hotels in Europa», schreibt Roland Flückiger, Denkmalpfleger und Autor des kürzlich erschienenen Buchs «Hotelpaläste».
Einen vergleichbaren historischen Reichtum an Bausubstanz gebe es europaweit höchstens noch an der französischen Riviera, schätzt der Autor gegenüber swissinfo.
2002 nur ein Drittel Logiernächte mehr als 1913
«Von Jahr zu Jahr stiegen die Übernachtungszahlen, und der Hotelbau entwickelte sich mancherorts zu einem eigentlichen Wettrennen.» Die Logiernächte-Statistiken aus der Belle Epoque lassen manchen heutigen Verkehrsdirektor und Hotelier vor Scham erbleichen – besonders in den grösseren Tourismusorten, meint Flückiger.
Die Schweiz gehörte damals zu den weltweit dynamischsten Tourismusdestinationen. Auch die Konjunktur befand sich während der Belle Epoque im Aufwind. «Von 1880 rund 1000 Gastwirtschaftsbetrieben stieg die Zahl bis 1912 auf knapp 3600 Hotels und Pensionen», so Flückigers Befunde. Allein im Kanton Bern wuchs die Anzahl Betriebe von 107 auf 665.
1913 offerierte die Schweiz als touristische Gross-Destination knapp 170’000 Gästebetten und ein Heer von 50’000 Angestellten: Im gleichen Jahr wurde der sagenhafte Rekord von 22 Millionen Logiernächten erreicht. Heute, 90 Jahre später und mit einem viel tieferem Anteil an ausländischen Gästen, sind es bloss ein Drittel mehr, nämlich 32 Mio. (2002).
«Hochblüte, Ablehnung und Wiederentdeckung der Hotelbauten aus der Belle Epoque», so fasst der Buchautor die letzten 130 Jahre Schweizerischer Tourismusgeschichte zusammen: Lange Jahre wurden die «Hotelkästen zwischen Kitsch und Kommerz» im Inland selbst belächelt. Und dem langsamen wirtschaftlichen Niedergang, der ab den 1960er Jahren zu zahlreichen Konkursen führte, schaute man tatenlos zu.
Spekulantenkriege und Feriendorf-Omertà
Auf eine Betriebsschliessung folgte auffällig oft ein Hotelbrand, damit nachher völlig abgebrochen werden konnte, resp. durfte. Viel historische Bausubstanz, die im Buch beschrieben ist, ging so verloren.
«Andererseits ist in der Schweiz, verglichen mit anderen grossen Tourismusländern, viel Bausubstanz erhalten, weil sie vom Krieg verschont blieb», relativiert Flückiger.
Viele «Kästen» standen neuzeitlichen Planern einfach im Weg. Ihnen waren die alten Paläste ein Dorn im Auge, weil sie oft an sehr teuren, anderweitig verwendbaren, zentralen Standorten liegen. Sie lassen auch keine günstige Bewirtschaftung der Hotel-, Gastro- oder Büroabläufe zu, wie das bei modernen, standardisierten Gebäuden der Fall ist.
So stosse man beispielsweise in Grindelwald rund um das ehemalige Hotel «Bären» («Bear») auf eine Mauer des Schweigens. Unterlagen finde man keine mehr – alles sei weg.
Ausgelöscht, neu renoviert, Fassade gewahrt
Anderseits ist beispielsweise das im Buch erwähnte Hotel Riffelalp bei Zermatt, dass zwischen 1877 und 1884 in der schwindelerregenden Höhe von 2220 M. ü. M. erbaut worden war, gerettet worden. Im Februar 1961 hatte ein Grossbrand das Haupthaus völlig zerstört. Ab 1998 wurde der Komplex als «Riffelalp Resorts 2222m» im Fünfstern-Niveau aus- und neugebaut.
Den Hotelbauten im Tessin ist im Buch ein ganzes Kapitel gewidmet. Noch vor wenigen Jahren stritt man sich in Lugano über die zuletzt nach einem ungeklärten Brand noch übrig gebliebene Fassade des Palace.
Eine weitere Gefahr ortet Flückiger in der sogenannten Auskernung. Sei der politische Widerstand gegen den Abbruch zu gross, werde nur noch die Fassade gewahrt und innen alles niedergerissen, und die dazugehörenden Parks würden zu Parkplätzen. Dieses Schicksal trifft möglicherweise das im Buch erwähnte Grand Hotel in Locarno, das als Gesamtwerk noch lange nicht gerettet ist.
Historische Wende mit der Giessbach-Rettung
Franz Weber leitete mit der Rettung des 1979 geschlossenen Giessbach-Hotels am Brienzer See im Berner Oberland den Paradigmenwechsel im Denken der Öffentlichkeit ein: Die Wiederentdeckung des Werts der historischen Hotels begann.
2003 wurde das Giessbach-Hotel zum «historischen Hotel des Jahres» gewählt. Heute stehen solche Paläste gar für eine Identität des helvetischen Qualitätstourismus und bilden ein Bollwerk gegen den globalen auswechselbaren Massentourismus.
Luxus, Business und Grösse allein waren nicht alles, was die alten «Kästen» zu bieten hatten. So verfügte der Hotelpalast Giessbach über ein eigenes, wasserfallgespeistes Elektrowerk für das Gebäude und die Standseilbahn.
Belle Epoque – Technoparks von gestern
Flückiger zeigt auch auf, dass diesen heute als «museal» erscheinenden Palästen eigentlich eine Pionierfunktion in Sachen technische Installationen zusteht: Infrastrukturen wie die Beleuchtung mit elektrischem Licht, fliessendes Wasser in Küche und Bad, Zentralheizung und Liftanlagen entstanden.
Die Belle-Epoque-Hotels dienten der Schweiz als Wegbereiter des modernen Wohnens. «Nur bei den Bädern in den Hotelzimmern harzte es etwas», sagt Flückiger. «Zu lange noch setze man im Innenausbau auf Etagenbäder.»
Swiss Style: Vom Heimatstil zum Turbo-Chalet
Zwei Seiten im Buch «Hotelpaläste» sind besonders erwähnenswert. Sie handeln von der «Zimmermanns-Gotik» und vom romantischen Zeitgeist des 19. Jahrhunderts. Und davon, wie die Schweiz damals mit ihrem Holzstil oder «Swiss Style» halb Europa architektonisch beeinflusste.
Alles hatte mit einer Kombination von ländlichem Bauernhaus und klassischen Stilelementen begonnen. Die gegenwärtig letzte Version dieses Baustils sind die «Turbo-Chalets» mit Ferienwohnungen.
Nicht nur Hotels sondern auch Sanatorien, Gartenrestaurants, Pavillons, Bahnhöfe, sogar Kirchen wurden im Swiss Style gebaut. Es folgten Erfolge an den Weltausstellungen in London 1851, in Paris 1867, die Landesausstellungen in Zürich und Genf sowie die Weltausstellung 1900 in Paris mit dem «Village Suisse».
Dringend ein Tourismus-Archiv
Besonders die Westschweiz und das Berner Oberland sind bis heute von diesem Schweizer Holzstil geprägt. «Doch für all diese für die Hotel- und Tourismusgeschichte so wichtigen Daten gibt es nirgends in der Schweiz ein Archiv», bedauert Flückiger.
«Als Tourismusland par excellence haben wir kein entsprechendes Forschungsarchiv. Für Musikdosen und Ähnliches gibt es in der Schweiz Museen, nur über die wirtschaftlich so revelante Hotel- und Tourismusbranche nicht», sagt der Autor.
swissinfo, Alexander Künzle
Roland Flückiger (51) ist diplomierter Architekt, Architekturhistoriker und Denkmalpfleger. Unter anderen leitete er das Nationalfonds-Projekt «Schweizer Hotelbauten 1830 – 1920».
Flückigers Bücher: «Hotelträume zwischen Gletschern und Palmen», Baden, 2001. «Hotelpaläste zwischen Traum und Wirklichkeit. Schweizer Tourismus und Hotelbau 1830 – 1920», 2003.
Die Schweiz besitzt das dichteste Netz an historischen Hotels in Europa: 1880 gab es in der Schweiz 1000 Gastwirtschafts-Betriebe. 1912 bereits 3600.
1913 setzte die Schweiz 22 Mio. Logiernächte um, 2002 waren es 32 Mio. – nur ein Drittel mehr also.
Flückiger schätzt, dass ein Drittel der Bau-Substanz an Hotels von vor dem 1. Weltkrieg verloren ist, ein weiterer Drittel umgebaut wurde und der Rest heute noch steht.
Die «kitschige Belle Epoque» gilt heute als Stück baulicher Identität der touristischen Schweiz. Franz Webers Giessbach-Hotel gilt als Wegbereiter dieser neuen Sicht.
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