Irene Bignardi: Cinéphile Schwerarbeiterin
Irene Bignardi steht seit vier Jahren an der Spitze des wichtigsten Filmfestivals der Schweiz.
Im swissinfo-Interview erklärt die Norditalienerin, was sie über die Schweiz gelernt hat, und verrät, wie man in Locarno das Internationale Filmfestival vorbereitet.
swissinfo: Was tut Irene Bignardi gegen die Konkurrenz der anderen Festivals, wenn sie einen Film unbedingt in Locarno haben möchte?
Irene Bignardi: (lacht) Alles, aber immer in den Grenzen des persönlichen Anstandes. Ich mache alles, was irgendwie möglich ist. Um die jedes Jahr stärker werdende Konkurrenz zu schlagen, müssen wir immer mehr arbeiten.
Wir visionieren eine riesige Anzahl von Filmen; ich glaube, mehr als bei jedem anderen Festival. Es sind ungefähr 1500 Filme eingetroffen, und von diesen habe ich zwischen fünf- und achthundert gesehen.
Die anderen haben wir auf meine Kolleginnen und Kollegen aufgeteilt. Dann beraten wir gemeinsam über die Filme, welche die erste Auswahl überstanden haben.
swissinfo: Seit Cannes ist eine Tendenz feststellbar, die in Richtung Rückkehr des politischen Films hindeutet. Michael Moore mit Fahrenheit 9/11, der die Goldene Palme gewonnen hat, ist ja nur das bekannteste Beispiel dafür.
I.B.: Der Dokumentarfilm hat heute zu einer grossen Kraft zurückgefunden. Wäre die Welt schön, ruhig und fröhlich, würden wir in einer dauernden Idylle leben, dann würde es weder den politischen Film noch den Dokumentarfilm brauchen. Also, wie schon Tolstoj sagte: ‹Glückliche Familien haben keine Geschichte.›
Wir zeigen in unserer diesjährigen Retrospektive ‹Journalismus und Medien im Kino› sehr schöne Dokumentarfilme. Sie sind eine Reflektion zum Verhalten des Journalismus.
Sie zeigen die Veränderungen des Filmschaffens in diesen Jahren auf, bei dem die Form der journalistischen Recherche vorangetrieben wird. Wir haben vor einem Jahr mit der Vorbereitung dieser Retrospektive begonnen, um eine möglichst grosse Anzahl Titel zur Aufführung zu bringen.
Der Preis für Michael Moore hat uns recht gegeben: Wir haben ein wichtiges Thema ausgewählt.
swissinfo: Wächst der Einfluss der Frauen im Kino in einer Welt, die von Männern dominiert wird?
I.B.: Sicher. Wenn wir unsere Selektionsarbeit machen, kümmern wir uns jedoch nicht um die Einhaltung von ‹Quoten›, das heisst, ob der Film von einer Frau gemacht worden ist. Wir haben aber festgestellt, dass sehr viel weibliches Talent ins Kino einfliesst: Schauspielerinnen, Produzentinnen und andere.
Ich erinnere mich, dass man im Jahr 1975 in Rom eine der ersten Auswahlen machte von Filmen, die von Frauen produziert wurden. Es gab lediglich deren 20. Heute ist es anderes. Vielleicht ist es für die Frauen immer noch schwieriger.
Aber wenn sie etwas tun, dann tun sie es richtig. Wir haben in der Jury eine äusserst fähige italienische Regisseurin, Tilde Corsi. Zudem haben wir zwei französische Filme im Programm, die vom Talent zweier Frauen profitieren. Sie unterscheiden sich grundlegend von anderen Filmen.
swissinfo: Was haben Sie in den letzen Jahren in Locarno Unerwartetes über die Schweizer entdeckt?
I.B.: Die Schweizer gibt es nicht! Es gibt Tessiner, Romands, Deutsch-Schweizer – viele unterschiedliche Völker. Die Tessiner habe ich am besten kennen gelernt und einige Deutschschweizer.
Ich habe herausgefunden, dass in der ruhigen Abgeschiedenheit des Tessins viele Spannungen und Rivalitäten existieren, die ich nicht erwartet hätte, wenn ich an mein friedliches Bild der Schweiz denke.
Die Freundlichkeit der Menschen und die Schönheit des Landes gefallen mir immer besser. Die Deutschschweizer sind sehr ernst, und für mich bleiben sie immer noch ein wenig mysteriös.
Ich spreche kein Deutsch. Wir kommunizieren auf Englisch oder Französisch, und dies ist vielleicht auch nicht die beste Methode, sich näher zu kommen. Die Schweiz ist nicht so friedlich und ruhig. Das habe ich in den vergangenen vier Jahren festgestellt.
swissinfo: Und was hat Irene Bignardi von der Art, wie man im Tessin arbeitet, gelernt?
I.B.: Darf ich das sagen? Als Lombardin habe ich nicht viel profitiert. Wir haben dieselbe Kultur, in der man seine Arbeit gut macht.
Wahrscheinlich habe ich ein wenig italienische Aufgeschlossenheit mitgebracht, was das Arbeiten zu unmöglichen Zeiten betrifft. In der Schweiz ist das offensichtlich nicht sehr üblich.
swissinfo-Interview: Raffaella Rossello
(Übertragen aus dem Italienischen: Etienne Strebel)
4. bis 14. August 2004: 57. Internationales Filmfestival von Locarno.
Am Wettbewerb nehmen 19 Filme aus 17 Ländern teil.
«Promised Land» ist der einzige Schweizer Beitrag im Wettbewerb.
In diesem Jahr gibt es in Locarno viele politische und Dokumentar-Filme zu sehen.
Die Retrospektive ist dem Thema Journalismus und Kino gewidmet.
Präsident der Jury ist der Schweizer Fotograf René Burri.
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