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Eine introspektive Suche nach dem Sehen

Manuel von Stürler traf während zwei Jahren einige der grössten Experten auf dem Feld der visuellen Wahrnehmung, wie auch verschiedene Blinde wie Catherine Le Clech, die mit 37 Jahren dass Augenlicht verlor. Zwanzig Jahre später trafdie Frau den mutigen Entscheid für ein Retina-Implantat. La fureur de voir

Der französisch-schweizerische Regisseur Manuel von Stürler ist seit seiner Kindheit mit dem Risiko der Erblindung konfrontiert und lebt mit diesem Schicksal. Er wollte mehr über das Phänomen des Sehens und Nicht-Sehens erfahren. Entstanden ist sein Film "Fureur de voir" als eine Einführung in die Welt der Sicht und der Sinne. Der sehr persönliche Dokumentarfilm läuft am Festival "Visions du réel" von Nyon im Wettbewerb.

swissinfo.ch: Sie haben Posaune, Klavier und Komposition studiert. Erst 2012 – mit 44 Jahren – drehten Sie ihren ersten langen Dokumentarfilm «Hiver Nomade» (Nomadenwinter). Er wurde als bester europäischer Dokfilm ausgezeichnet. Wie entstand Ihre Leidenschaft für den Film?

Manuel von Stürler: Ich hatte schon immer eine grosse Leidenschaft für die Fotografie. Denn Fotos erlauben mir, die Welt besser zu sehen, als ich sie in Wirklichkeit sehe. Durch mein Problem an der Netzhaut ist mein Sehvermögen sehr eingeschränkt. Dank Fotografien kann ich Details entdecken, die mir andernfalls entgehen würden, weil ich das Bild ganz aus der Nähe oder mit einer Lupe betrachten kann.

Als ich noch jünger war, besuchte ich regelmässig Kurse und Vorträge von Freddy Buache, dem damaligen Leiter des Schweizer Filmarchivs in Lausanne. Dank ihm entdeckte ich die wichtigen russischen und amerikanischen Filme.

Vor allem aber wurde mir die fundamentale Bedeutung des Tons im Film bewusst, das heisst dem Soundtrack, der einer Erzählung unterlegt wird. Ich habe zudem bei vielen Theateraufführungen mitgewirkt, als Musiker und als Komponist. Und so habe ich gelernt, was es bedeutet, eine Geschichte zu erzählen.

Manuel von Stürler. Manuel Stürler

swissinfo.ch: Mit dem Film «La Fureur de voir» («Das Verlangen zu sehen») haben sie sich auf eine persönliche Reise nach dem Sinn des Sehens begeben. Warum haben Sie dies gerade jetzt getan, im Alter von 49 Jahren, obwohl sie seit der Geburt unter einer genetischen Netzhautkrankheit leiden?

M.v.S.: Diese Frage stelle ich mir auch ständig. Nach «Hiver Nomade» musste ich in gewisser Weise zuerst einmal den Erfolg verdauen. Und eine neue Inspiration finden. Ich war mir eigentlich nur sicher, dass ich eine starke Eingebung brauchte. Denn um einen Film zu realisieren, braucht es sehr viel Energie und Ausdauer. Die Arbeit an einem Projekt kann drei, vier oder auch fünf Jahre dauern. Man muss also wirklich daran glauben.

Ich habe viel recherchiert. Eines Tages stiess ich auf einen Artikel, der von der Möglichkeit sprach, dass blinde Menschen dank Implantaten wieder sehen können. Die Idee, dass eine blinde Person, die im Dunkeln lebt, die Welt mit den eigenen Augen wiederentdecken könnte, hat mich schier umgehauen.

Doch je mehr ich mich mit diesem Thema befasste, umso mehr musste ich feststellen, dass Sehen nicht nur von den Augen abhängt, sondern auch von neurologischen, kognitiven und sensitiven Komponenten. Und vor allem, dass alles, was wir sehen, mit unserer eigenen Geschichte verbunden ist, unserem Erlebten. Wir haben häufig das Gefühl, dass es reicht, die Augen zu öffnen, und die Welt dann so erscheint, wie sie ist. Doch der Baum, den ich sehe, sieht nur für mich so aus. Nur ich sehe ihn auf diese Weise.

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swissinfo.ch: In diesem Dokumentarfilm nehmen Sie den Zuschauer mit auf eine visuelle Reise –sozusagen durch ihre Sichtweise. War es schwierig, zugleich Regisseur und Subjekt eines Films zu sein?

M.v.S.: Ja, das war nicht einfach. Denn nur wenige Filme, die in Ich-Form erzählt werden, haben mich bisher überzeugt. Doch je mehr ich mich mit diesem Thema befasste, desto klarer wurde mir, dass ich mit meiner eigenen Erfahrung beginnen muss, wenn ich anderen eine Geschichte erzählen will. Im Alter von 45 Jahren habe ich vielleicht verstanden, dass ich Antworten brauche. Oder vielleicht musste ich auch nur akzeptieren, dass es auf bestimmte Fragen keine Antworten gibt.

Die Tatsache, dass ich selbst in meinem Dokumentarfilm als Subjekt vorkomme, hat mir viele Türen geöffnet. Die Experten waren fasziniert von meinem Fall, denn theoretisch sollte ich keine Farben sehen, doch ich sehe sie. Daher haben sie mich gerne getroffen. Sehbehinderte Personen empfingen mich hingegen wie «einen von ihnen».

swissinfo.ch: Während des ganzen Films taucht immer wieder die Frage nach der Bedeutung des Sehens auf. Haben sie eine Antwort auf diese Frage gefunden?

M.v.S.: Ja, für mich ist klar geworden, dass Sehen eine ganz individuelle Erfahrung ist, die sich nur sehr schwer teilen lässt. Doch man sollte sich von dieser Sichtweise nicht einschüchtern lassen, sondern verstehen, dass auf diese Weise eine einzigartige Freiheit entsteht, verbunden mit einzigartigen Emotionen.

Diese Erkenntnis erlaubte es mir auch, mich mit meinem eigenen Handicap zu versöhnen. Wenn mich Freunde oder Verwandte fragten, «Aber Manu, wie siehst du?», wusste ich nie, was ich antworten sollte. Es war, als ob ich mich rechtfertigen müsste.

Doch heute weiss ich, dass jeder die Welt ganz unterschiedlich sieht. In gewisser Weise hat mein Handicap dadurch an Wichtigkeit verloren, weil ich merkte, dass ich die Frage umkehren darf. Ich darf die anderen fragen: «Aber wie seht ihr das?» Und das ist ein gutes Gefühl für mich!

swissinfo.ch: Ein Dokumentarfilm stellt in gewisser Weise einen Versuch dar, die Realität abzubilden. Ist es dann nicht fast paradox, wenn ein solcher Film von jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer so unterschiedlich wahrgenommen werden kann?

M.v.S.: Ich fühle mich stärker als Cineast denn als Dokfilmer. Ich möchte eher anregen, als spezifische Informationen zu einem Thema zu geben. Ich möchte den Zuschauer lieber auf eine poetische Reise mitnehmen als didaktisch zu wirken.

Das Thema der Sicht und des Sehvermögens hat mich in diesem Ansatz bestärkt, denn wir sind bei unserer Weise, die Welt zu sehen, alleine, ganz alleine. Deshalb gefällt mir auch die Idee, den Zuschauern die Möglichkeit zu geben, zu träumen und sich ein eigenes Bild zu machen. Die Vermittlung erfolgt eher über Emotionen denn über Wissen.

swissinfo.ch: Der Film beginnt mit einem Eingeständnis, nämlich «der Angst vor dem Verlust des Augenlichts». Haben Sie diese Angst irgendwie überwinden können?

M.v.S.: Fast… Oder vielleicht habe ich gelernt, damit zu leben. Ich war acht Jahre alt, als der Arzt meinen Eltern sagte, dass ich mit 20 Jahren blind sein würde. Das war nicht einfach…. Erst später habe ich verstanden, dass dieser Arzt kein Genie war. Seine Diagnose war viel zu radikal und kam zu schnell.

Heute kann mir niemand sagen, ob ich das Augenlicht komplett verlieren werde, oder ob es dabei bleiben wird, dass ich die Welt durch Farben sehe. Ich hoffte, auf Grund von genetischen Analysen zu verstehen, wie der Entwicklungsverlauf sein wird, doch die wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Bereich sind noch sehr lückenhaft. Da mir die Wissenschaft keinerlei Garantien geben kann, sagte ich mir heute, dass es besser ist, sich auf das zu verlassen, was ich kenne, angefangen bei der Freude am Leben.

Manuel von Stürler, 1968 in Lausanne geboren, besitzt die schweizerische und französische Staatsangehörigkeit. Er studierte Posaune, Klavier und Komposition am Konservatorium in Neuenburg und der Jazzschule in Lausanne.

2008 startet er das Dokfilm-Projekt «Hiver nomade» (Winternomaden). Er begleitete zwei Schäfer und 800 Schafe während vier Monaten des winterlichen Alpabtriebs. Die Weltpremiere erfolgte an der 62.Berlinale 2012. Der Film erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, darunter den Europäischen Filmpreis als bester Dokumentarfilm.

«La Fureur de voir» ist von Stürlers zweiter Dokumentarfilm. Er wird als Weltpremiere beim Internationalen Filmfestival von Nyon «Visions du réel»Externer Link (21. bis 29. April 2017) im internationalen Wettbewerb gezeigt.

(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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