Locarno lebt nicht nur von der Piazza Grande
Filmfestival Locarno: Gassenhauer, Spiel- und Dokumentarfilme, experimentelle Streifen, alte, geliebte Schinken. Das Angebot ist riesig - unmöglich, alles anzuschauen.
Trotzdem: Ein Selbstversuch soll zeigen, wieviel Kino an einem Festivaltag für einen einzelnen Menschen zu bewältigen ist.
9 Uhr: Slipstream von und mit Anthony Hopkins. Mein Kino-Marathon beginnt. Mit rasanten Vor- und Rückblenden, Überbelichtungen, Sprüngen in verschiedene Dimensionen, baut der 69-jährige ein irritierendes Netz, dessen Muster man erst nach und nach erahnt.
Hopkins scheint es auf dieser Spiel- und Experimentierwiese durchaus wohl zu sein. Man sollte ihn zu weiteren Versuchen ermuntern. Das war ein fulminanter Beginn.
11 Uhr: Bruno Manser – Laki Penan
Nach Hopkins lauten und rasanten Fiktionen geht es nun zum leisere Töne anschlagenden Dokumentarstreifen über den in Borneo verschollenen Schweizer Naturschützer und Menschenrechtler Bruno Manser.
Die Geschichte beginnt mit einem Aufsatz von Bruno Manser, seinem Traum, Naturforscher zu werden. Aktuelle Aufnahmen einer Expedition auf Mansers Spuren werden mit Bild- und Tondokumenten von und über ihn gemischt.
Es entsteht ein differenziertes Bild des Eigenbrötlers. Mitgezeichnet durch seine Penang-Familie, die ihn in ihrem Urwald aufgenommen hatte, ihn zu einem der ihren machte und ihn lange vor den Häschern der Holzfirmen versteckte.
Christoph Kühns Film lässt das Publikum nachdenklich zurück, mit vielen Fragen, die auch den eigenen Lebensstil mit einschliessen.
14 Uhr: Internationaler Wettbewerb
Die Leinwand steht jungen Filmkünstlern offen, die zum ersten Mal ihr Werk einem internationalen Publikum vorführen.
Der Reigen wird eröffnet von Wing, the Fisch That Talked Back, dem Erstling der Holländerin Ricky Rijneke. Ein kleines chinesisches Mädchen unterhält sich mit Fischen. Mit einem Zaubertrank verwandelt die Kleine ihre Grossmutter in einen Goldfisch: 13 eindrückliche, rätselhafte und packende Minuten.
Mit Le Café des Pêcheurs, einer französisch-marokkanischen Coproduktion, geht der Wettbwerb weiter: Winter in einem marokkanischen Fischerdorf, schlechtes Wetter, die Fischer dürfen nicht aufs Meer hinausfahren. Einer tut es doch und kommt nicht mehr zurück.
Man nimmt den Laienschauspielern den Hunger, ihre Verzweiflung, ihre Angst vor der Zukunft nicht ab.
Und beim kanadischen Streifen Dust Bowl Ha! Ha! ist der exotische Titel das Beste!
Von ganz anderem Kaliber ist da Zohar, der Israelin Yasmine Novak. Zwar ist auch das Thema «Ein Mädchen wird zur Frau» nicht neu. Aber es wird erfrischend umgesetzt: Eine junge, scheue, versteckte Liebe, der «lockere» Lebenswandel der Mutter, und schlussendlich ein Happy End!
Den Vogel schiesst der Rumäne Adrian Sitaru mit Valuri (Wellen) ab. Rumänische Strandszenen, gut beobachtet, mit Liebe zum Detail und mit einem total anderen Ende als erwartet. Viel Komik, eine gesunde Portion schwarzer Humor sind wohldosierte Gewürze für diesen erfrischenden Film.
16:15 Uhr: Harat
Die iranische Filmemacherin Sepideh Farsi nimmt ihre Tochter und das Publikum mit auf eine Reise von Paris nach Teheran und weiter bis ins afghanische Herat, auf den Spuren der eigenen Geschichte.
Gefilmt wurde mit einer einfachen Videokamera. Trotz oder gerade wegen der filmtechnischen Unzulänglichkeiten erzielt Farsi Wahrhaftigkeit und intime Nähe, die berührt.
18:30 Uhr: Allein in vier Wänden
Alexandra Westmeier wirft einen Blick auf russische Jugendliche, die alle etwas «ausgefressen» haben und deshalb in einem Jugendgefängnis sitzen.
Der eine hat gestohlen, der andere einen Mord begangen. Die Burschen zwischen 11 und 15 lassen uns nicht kalt. Jeder erzählt, weshalb er hier ist. Die einen tun das unbeteiligt, kühl, anderen laufen dabei die Tränen übers Gesicht.
Im Jugendknast lernen die Jungs zu gehorchen, Ordnung zu halten, zu arbeiten. Beklemmend deshalb der Schluss-Satz: «91% dieser Jugendlichen werden nach ihrer Entlassung wieder im Gefängnis landen, in einem für Erwachsene».
21:30: Piazza Grande
Das Publikum auf der Piazza Grande wartet auf Matt Damon, der in «The Bourne Ultimatum» über die gigantische Leinwand hetzen wird. Regisseur Paul Greengrass lässt es krachen. Rasant werden Menschen erschossen oder durch Bomben umgebracht und der «böse» US-Geheimdienst CIA ist unserem Jason alias Matt dicht auf den Fersen, in bester Action-Film-Manier.
Das Publikum geht mit: Jedesmal wenn Matt, äh Jason, einem total zu Schrott gefahrenen Auto quasi unverletzt entsteigt und weiter ballert, brandet Applaus auf!
Und dann, kurz nach Mitternacht: «Vogliamo anche le rose». Alina Marazzi arbeitet die Geschichte der italienischen Frauen seit Mitte der 1960er-Jahre auf. Ernsthaft und doch unterhaltsam führt sie durch Themen wie Erste Liebe, Abtreibung, Rollenverständnis.
Ihre Geschlechtsgenossinnen zeigen in Werbung oder Filmausschnitten aus dieser Epoche, wo der Schuh jeweils drückte. Und er drückte 81 Minuten lang, bis zum Ende der 70er-Jahre. Die Zeitspanne bis heute wurde noch durch zwei drei dürre Nachrichtenzeilen überbrückt – gut! Denn um 01:30 Uhr wäre es dem Cinema-Marathon-Man nicht mehr gelungen, noch mehr Frust und Lust aufzunehmen. Auf die 54 weiteren an diesem Tag angebotenen Filme musste er leider verzichten.
swissinfo, Etienne Strebel in Locarno
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