Locarno und sein Publikum
"Cannes für die Profis, Venedig für die Schickeria, Locarno für jedermann." So charakterisiert David Streiff, Direktor des Bundesamtes für Kultur, das Filmfestival Locarno.
In den letzten Jahrzehnten verstand sich Locarno immer als «das grösste Festival unter den kleinen.» Das hat sich geändert. Mit einem Budget von 9,3 Millionen Franken (davon 1,19 Millionen Franken vom Bund) mischt die diesjährige 55.Ausgabe ganz oben mit.
Ende letzten Jahres hat der Internationale Verband der Filmproduzenten das Filmfestival von Locarno offiziell in die Kategorie A aufgewertet: Von einem Spezialfestival (für den jungen und neuen Film) ist es ein Generalistenfestival geworden.
Für jeden Geschmack etwas
Für David Streiff – er selbst leitete das Festival zwischen 1982 und 1992 – ist «ein zehn Tage langes Baden in Filmen» wie in Locarno einzigartig. «Wer will, kann 20 Stunden am Tag Filme schauen, während weniger Interessiert ihre Filmbesuche mit einem Ferienaufenthalt in einer wunderschönen Region kombinieren können.» Diese Formel funktioniere bestens, wie der Zuschauerandrang beweise. Es werden sogar noch neue Säle gebaut, um die Publikumsnachfrage befriedigen zu können.
Aber besteht nicht das Risiko einer Übersättigung? «Persönlich bevorzuge ich eine stärkere Selektion, aber in unserer heutigen Zeit verlangen die Leute nach einer möglichst grossen Auswahl. Das sieht man ja auch in einem Supermarkt…», sagt Streiff, der damit aber nicht die Festivaldirektion kritisieren will. Im Gegenteil: Die neue Leitung unter Irene Bignardi habe gut verstanden, dass Locarno sowohl etwas für Insider als auch für das breite Publikum bieten müsse.
Individualität statt Kollektivität
Gleichwohl bleibt ein wenig Nostalgie für die alten Zeiten, als alle das gleiche Programm sahen. Aber Streiff ist es schon als Festivaldirektor nicht gelungen, das exponentielle Wachstum der Veranstaltung zu bremsen. Das Ergebnis: «Die Festivalteilnehmer machen individuelle Erfahrungen, man teilt nicht mehr die gleichen Eindrücke.»
Doch die Faszination der dunklen Säle ist geblieben: «Es beeindruckt mich immer wieder, selbst an heissen Sommertagen tagsüber volle Kinosäle zu sehen. Voll von jungen Leuten, die verrückt auf Filme sind.» Am Abend – auf der Piazza – kommen auch andere Leute. Mehr Einheimische und Feriengäste, die aber auch kritisch sind. Streiff: «Dass der Publikumspreis letztes Jahr einem indischen Film von vier Stunden Länge verliehen wurde, sagt doch einiges aus.»
Kultur und Business
Locarno ist nicht nur ein Ziel für Touristen und Cineasten. Es ist auch ein Ort, in dem sich Filmproduzenten und -verleiher treffen. Seit einigen Jahren existiert als Experiment ein «Industry Office», um den Ankauf und Verkauf von Filmen zu erleichtern. Eine gute Idee? «Ich glaube, dass Locarno nie in einen Wettbewerb mit grossen Märkten, wie in Cannes, eintreten kann. Aber es ist richtig, Autorenfilme und Produktionen aus zweitrangigen Ländern durch solche Treffen zu fördern.»
Im Übrigen treffen sich Produzenten und Schweizer Kinobesitzer schon seit längerem, um über das Programm der kommenden Session zu beraten. Und auch wenn Locarno eine neue Rolle in der kommerziellen Promotion von Filmen einnehmen sollte, scheinen die ursprünglichen Qualitäten nicht verloren zu gehen. Die Teilnahme breiter Bevölkerungsschichten am Festival, die kulturelle Debatte im Schatten der Palmen und vor allem die Völlerei mit Filmen bleiben die Markenzeichen von Locarno.
Raffaella Rossello e Daniele Papacella
Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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