Mär der weinenden, lebendigen, mörderischen Puppe
Sennentuntschi ist die "Geschichte einer Tragödie aus Lust, Wahnsinn und Mord" des Schweizer Regisseurs Michael Steiner. Der Film hatte für Schlagzeilen gesorgt, schon bevor er ins Kino kam.
Ein Film über eine mörderische Sexpuppe in den Alpen – dies allein könnte in der Öffentlichkeit schon für Aufmerksamkeit sorgen. In diesem Fall kamen Schlagzeilen über bittere persönliche Streitereien, drohende Bankrotte und die Rede, dass auf dem Stoff ein Fluch liege, dazu.
«Das Projekt stand wirklich ganz kurz vor dem Aus», sagt Steiner gegenüber swissinfo.ch und zeigt sich erleichtert. Dies war ein paar Tage, nachdem Sennentuntschi zum erfolgreichsten Film des Jahres avanciert war – gerade mal zwei Wochen, nachdem er in den Kinos angelaufen war.
Angefangen hatte alles 2003, als Steiner und Pascal Walder die Idee hatten, die alte Legende vom Sennentuntschi zu verfilmen. Walder war Steiners Kameramann bei «Mein Name ist Eugen», der 2006 den Schweizer Filmpreis gewann.
Die Dreharbeiten für die 5,5 Millionen Franken teure Produktion begannen im September 2008 und dauerten 10 Wochen – danach begannen die Probleme.
Steiners Produktionsfirma Kontra stand vor Liquiditätsproblemen und ein Buchprüfer der Eidgenossenschaft, die eine Million Franken beigesteuert hatte, entdeckte, dass fast drei Millionen fehlten – inklusive Löhne für Schauspieler und Techniker.
Doch es sollte noch schlimmer kommen: Im Juni 2009 stand Kontra vor dem Bankrott, und ob Förderer noch mehr Geld locker machen würden, war unklar.
Im Februar 2010 schien das Projekt vor dem endgültigen Aus zu stehen, als ein weisser Ritter auftauchte: Bernhard Burgener. Der Schweizer von der deutschen Produktionsfirma Constantin Media kaufte Kontra und beglich die Schulden und ausstehenden Löhne. Sieben Monate später hatte Sennentuntschi am Filmfestival Zürich Weltpremiere.
«Wenn es bei einer Produktion Probleme gibt, dann normalerweise während der Dreharbeiten. Es ist schon ungewöhnlich, dass eine Produktionsfirma nach dem Dreh eingeht», räumt Steiner ein.
Angst vor Felsbrocken
Die Dreharbeiten im Urner Schächental, aus dem der legendäre Willhelm Tell stammen soll, und in Soglio im Kanton Graubünden, seien gut gelaufen, sagt Steiner. Auch wenn es sicher einfachere Orte gebe, einen Film zu drehen, als mitten in den Alpen.
«Das grösste Problem war der Steinschlag. Wir filmten am Fuss einer massiven Felswand. Jemand musste die ganze Zeit ein Auge darauf halten, ob der Fels in Bewegung geriet. Zweimal lösten sich grosse Felsbrocken – und die sind tödlich, wenn sie einen treffen.»
«Zudem war es kalt. Und Roxane [Mesquida, die das Sennentuntschi spielt, N.d.R.], hatte ja nicht eben viele Kleider an.»
Was der jungen französischen Schauspielerin, die ein bisschen wie eine brunette Romy Schneider aussieht, an Kleidern und Dialogen fehlt, kompensiert sie mit ihrer Fähigkeit, sowohl bedrohlich als auch verletzlich zu wirken.
Nichts ist wie es scheint
Steiners Version der Legende vom Sennentuntschi (siehe Trailer) fängt mit einem jungen Mädchen an, das Pilze sammelt und dabei auf ein Skelett stösst.
Der Rest des Films ist eine Rückblende in die 1970er-Jahre und erzählt zwei scheinbar voneinander unabhängige Geschichten: Die der geheimnisvollen, zerzaust wirkenden jungen Frau, die nach der Beerdigung eines jungen Priesters im Dorf auftaucht und vom Dorfpolizisten vor den argwöhnischen Bewohnern beschützt wird, sowie von drei Sennen, die sich im Absinth-Rausch auf der Alp eine Puppe (Tuntschi) basteln, die, so glauben sie, zum Leben erwacht.
Sind die beiden Erzählstränge miteinander verbunden, gibt es eine rationale Erklärung – oder werden Puppen in den Bergen wirklich zu lebenden Wesen?
Das Filmpublikum merkt langsam, dass nichts ist, wie es erscheint, und dass die Wahrheit irgendwo da draussen liegt, um eine andere Geschichte zu zitieren, bei der sich Vernunft und das Übernatürliche gegenüberstehen.
«Diese Erzählstruktur gab es in einem Schweizer Film noch nie», erklärt Steiner. Er denke da etwa an Christopher Nolans Film Inception.
«Ich wollte, dass die Leute sich nach dem Film Gedanken machen über die Chronologie, sich Fragen stellen wie – da war also dieses Mädchen zuerst hier, danach ging sie dorthin, dann kam sie zurück – und so weiter…»
Sei vorsichtig, was Du dir wünschst…
Sennentuntschi wurde als Psychothriller bezeichnet, als übernatürlicher Horrorfilm oder gar als Alpen-Western, unter Hinweis auf die Rolle des Sheriffs, des einsamen Kämpfers für das Gute: In diesem Fall der Dorfpolizist, der den Lynch-Pöbel auf Distanz hält.
Ist der Film also nicht so sehr ein Spaghetti-Western, sondern ein Spätzli-Western? «Ja, so etwas. Ein Fondue-Western. Es ist eine Mischform», lacht Steiner.
«Aber ich halte mich grundsätzlich nicht so sehr mit Genre-Fragen auf. Ich habe einen Film gedreht, den ich gerne sehen möchte. Und er hat Elemente unterschiedlichster Genres, auch der Romanze. Er enthält viele universelle Themen.»
Eines davon ist die Suche nach Liebe, um nicht zu sagen, die Gewalt männlicher Lust – und die Probleme, die es nach sich ziehen kann, wenn all dies ausgelebt wird.
«Aber es geht auch um Aussenseiter, die um Anerkennung kämpfen. Das bezieht sich nicht nur auf die junge Frau im Dorf, sondern auch auf einen der Sennen, der ein Geheimnis hat…».
Ohne Frage scheinen sich abgelegene Schauplätze für Filme zu eignen, in denen unheimliche oder ungewöhnliche Dinge passieren. Im Schweizer Film Höhenfeuer etwa, der auch im Kanton Uri gedreht wurde, kommen sich ein Bruder und eine Schwester näher als sie eigentlich sollten, was ein böses Ende nimmt.
Ein anderes Beispiel wäre Deliverance. «Ja, Deliverance! Mein Kameramann und ich haben uns den Film zweimal zusammen genau angesehen», sagt Steiner und formt mit seinen Händen eine Kamera, bevor er sagt: «Hm, aber klar denke ich nicht, dass Sennen so sind.»
Erfolg auch im Ausland?
Zu guter Letzt bleibt der Film ein geheimnisvolles Schauermärchen, etwas zwischen Gebrüder Grimm und Stieg Larsson. Neben dem Erfolg an der Kinokasse wurde das Werk auch von Kritikern vor allem positiv aufgenommen.
Steiner hofft, Sennentuntschi auch im Ausland auf die Leinwand zu bringen, nicht nur in Österreich und Deutschland, wo der in Mundart gedrehte Film in einer deutschen Synchronisation auf den Markt kommen soll, sondern auch in Grossbritannien und in den USA.
Könnte der Film ausserhalb der Schweiz Erfolg haben? Die brutalen Vergewaltigungsszenen würden für einen Vertrieb in den USA wohl die Kategorie R (Restricted, Jugendliche unter 17 nur in Begleitung Erwachsener) nach sich ziehen, in Grossbritannien mindestens die Kategorie 15 (ab 15 Jahren frei). In der Schweiz ist der Film ab 16 Jahren freigegeben.
Bedenken, dass der Film für ein Massenpublikum zu viele explizite Sex- und Gewaltszenen hat und für Anhänger von Horror-Filmen zu wenig blutrünstig ist, haben sich in der Schweiz nicht bewahrheitet.
Die Geschichte vom Sennentuntschi ist eine im deutschsprachigen Alpenraum, von der Schweiz bis ins Tirol verbreitetes Sagenmotiv.
Es gibt verschiedene Versionen der Sage, gemeinsam haben die meisten sexhungrige, gelangweilte Sennen auf den Alpen, die sich betrinken und sich aus Stroh und anderen Materialien eine weibliche Puppe basteln (Tuntschi, Toggel), mit der sie sich dann vergnügen und ihre sexuellen Gelüste stillen.
Die Puppe erwacht schliesslich zum Leben und rächt sich vor der Alpabfahrt auf schauerliche Art und Weise an den Sennen.
Der Schweizer Schriftsteller Hansjörg Schneider hatte basierend auf der Legende ein Theaterstück geschrieben, das nicht nur bei der Uraufführung 1972 für einen Skandal sorgte, sondern vor allem 1981, als eine TV-Version am Schweizer Fernsehen gezeigt wurde.
Das Fernsehen hatte darauf eine Klage wegen Blasphemie am Hals.
Dabei war es weniger der Sex, sondern die Tatsache, dass die Puppe beseelt wurde, an der sich die Kläger gestossen hatten.
Steiner, der 1981 erst zwölf Jahre alt war, sagt, er habe das Stück von Schneider weder gesehen noch gelesen.
Es habe ihn daher nicht beeinflusst, als er das Drehbuch für den Film schrieb.
Die Idee einer unbeseelten Figur, die zum Leben erwacht, ist in der Literatur und Kunst weit verbreitet: Vom Bildhauer Pygmalion (Ovid, Metamorphosen), der sich in seine Marmorstatue verliebt, die dann lebendig wird bis zu Mary Shelleys Frankenstein und Fritz Langs Film Metropolis von 1927, um nur ein paar zu nennen.
Geboren 1969 in Hergiswil, Kanton Nidwalden.
Studium der Ethnologie, Kunstgeschichte und Filmwissenschaften an der Universität Zürich.
Steiner arbeitete als Journalist, Pressefotograf und Regisseur für Condor Film, Zürich. Regie bei Auftragsfilmen und Werbespots.
2006 erhielt er den Schweizer Filmpreis in der Kategorie Spielfilm für «Mein Name ist Eugen».
Die Schweizermacher (1978) – 940’000 Eintritte
Die Herbstzeitlosen (2006) – 600’000
Mein Name ist Eugen* (2005) – 580’000
Achtung, Fertig, Charlie! (2003) – 560’000
Grounding* (2006) – 380’000
*Regie Michael Steiner
(Quelle: www.procinema.ch)
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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