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«Man hat mir die Kindheit geraubt»

Bis ins 19. Jahrhundert weit verbreitete Praxis: Gemeindebehörden versteigern Kinder. Emil Zbinden, Holzschnitt, Limmat Verlag

Jahrzehntelang hat man die so genannten Verdingkinder tot geschwiegen. Eine Ausstellung beleuchtet nun dieses wenig erbauliche Kapitel der Schweizer Geschichte. Es geht um Kinder, die zwischen 1920 und 1960 aus ihren Familien gerissen wurden.

Bis in die 1960er-Jahre wurden Tausende von Kindern ihren Eltern weggenommen und in Erziehungsinstituten oder bei anderen Familien, insbesondere Bauern, untergebracht. Diese jungen Menschen mussten häufig harte Arbeit verrichten. Zudem kam es auch immer wieder zu Missbräuchen.

Fremdplatziert wurden sie von den Behörden, weil sie Halb- oder Vollwaisen waren, die Eltern unverheiratet oder arm waren. Auch moralische Gründe konnten dazu führen, beispielsweise wenn der Lebenswandel der Eltern nicht mit den moralischen Normen der bürgerlichen Gesellschaft in Einklang stand.

Über Jahre waren diese düsteren Kapitel der schweizerischen Geschichte kein Thema. Erst seit den 1990er-Jahren haben einige ehemalige Verdingkinder begonnen, ihr Schweigen zu brechen und die einstige Praxis zu denunzieren. «Das Schweigen zu brechen, war sehr hart», sagt Michael in einem Video-Interview.

«Es ist eine Generationenfrage», meint Jacqueline Häusler, Kuratorin der Ausstellung «Verdingkinder reden» im Käfigturm von Bern und Mitglied des Vereins «Geraubte Kindheit». «Viele dieser Personen haben ihre Kindheit lange verheimlicht, weil sie glaubten, dies könne sich negativ auswirken. Viele haben sogar erst nach der Pensionierung darüber gesprochen, wenn die eigenen Kinder aus dem Haus waren.»

Billige Arbeitskräfte

Die Ausstellung besteht aus Hördokumenten, die aus 300 Interviews von Personen ausgewählt wurden, die zwischen den 1920er- und 1960er-Jahren als Verdingkinder fremdplatziert waren. «Es handelt sich natürlich um subjektive Erinnerungen. Und es gab auch Verdingkinder, die eine glücklich Kindheit hatten», präzisiert Jaqueline Häusler.

Doch die glücklichen Momente waren offenbar eher die Ausnahme, wie den Aussagen von Johann, Simon, Georges, Jean-Louis oder Barbara zu entnehmen ist. «Mir fehlte einfach das, was die anderen Liebe nannten», ist in einem Interview zu hören.

«Als mein Vater krank wurde, stellte meine Mutter einen Antrag auf Sozialhilfe, der aber abgelehnt wurde. Sie wollten mich lieber fremdplatzieren, als meiner Mutter Geld geben, um mich grossziehen zu können. Wir waren neun Kinder. Wir wurden alle fremdplatziert.»

In der Tat war es für die Behörden häufig günstiger, bedürftige Kinder in anderen Familien unterzubringen, wo sie als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden, als Sozialhilfe zu bezahlen.

Wie Aussätzige behandelt

Viele Erinnerungen an den Alltag der Verdingkinder gehen unter die Haut. «Ich musste in einer kleinen, fensterlosen Kammer neben dem Stall essen; ich durfte nie am Küchentisch sitzen», erzählt beispielsweise Johann.

An einer Wand sind Gegenstände aufgehängt, die für manche Verdingkinder eine besondere Bedeutung besassen. Beispielsweise eine Puppe, die ein Patenonkel seinem Patenkind schenkte, aber von den Pflegeeltern sofort konfisziert wurde.

Die Ausstellung ist in sieben Themenbereiche gegliedert, darunter die Erinnerung an den ersten Tag, Zeugnisse von Verdingkindern, Strategien zur Verarbeitung des Traumas, Video-Botschaften sowie eine Sektion zu aktuellen Probleme der Fremdplatzierung.

Ein kleiner Raum erinnert zudem daran, dass diese Kinder im Regelfall wie Aussätzige behandelt wurden. Simon, der mit zwei Brüdern in einem Heim untergebracht war, sagt: «Mir machte es am meisten zu schaffen, dass die so genannten normalen Familien uns nicht einmal zu einem Geburtstag eingeladen haben.»

Keine offizielle Entschuldigung

Unter den ehemaligen Verdingkindern ist auch ein Groll auf die Behörden weit verbreitet. «Ich fürchte nichts mehr als Sozialdienste beziehungsweise alles Staatliche», schreibt André.

Manchmal waren auch die offiziellen Vormünder der Kinder echte Gauner. Françoise erinnert sich, dass sie zum 20. Geburtstag von ihrem Vormund 20 Franken geschenkt bekam. Doch von den 160’000 Franken Ertrag aus dem Verkauf ihres Elternhauses hat sie nie etwas gesehen.

«Der Staat hat sich nie entschuldigt, wirklich nie», klagt Michael. «Im Jahr 2003 hat das Parlament einen Kredit abgelehnt, mit dem eine vertiefte historische Forschung zu diesem Thema hätte finanziert werden sollen», sagt Walter Zwahlen von «netzwerk verdingt», einem Verein ehemaliger Verdingkinder. «Bisher hat sich nur die katholische Kirche in Luzern offiziell entschuldigt.»

Aus Fehlern lernen

Als Erwachsene haben die ehemaligen Verdingkinder auf unterschiedliche Weise versucht, ihr Kindheitstrauma zu überwinden. Viele versuchten, die Erinnerungen einfach zu verdrängen und ein ganz normales Familien- und Berufsleben zu führen.

Andere versuchten, durch kreative Tätigkeiten ihre Erlebnisse zu verarbeiten. In einigen Fällen gelang dies nicht: Die einstigen Verdingkinder landeten im Gefängnis oder in psychiatrischen Kliniken.

«Mit dieser Ausstellung wollen wir nicht nur an die Vergangenheit erinnern, sondern auch Lehren für die heutigen Formen ausserfamiliärer Erziehung ziehen», betont Jaqueline Häusler. Den häufig zu hörenden Satz «Mir wurde die Kindheit geraubt» soll es in Zukunft nicht mehr geben.

Schon aus dem Mittelalter sind Praktiken bekannt, wonach Kinder aus armen Familien oder aus unehelichen Beziehungen fremdplatziert wurden.

Besonders häufig kamen diese Kinder in Bauernfamilien. Die Gemeinden gaben den Landwirten einen Beitrag für Kost und Logie der Kinder, die in der Regel schwere Arbeiten verrichten mussten.

Noch bis ins 19. Jahrhundert gab es richtige Märkte und Versteigerungen, an denen die Kinder an den Meistbietenden verkauft wurden. Im Kanton Luzern wurden diese Versteigerungen im Jahr 1856 verboten.

Neben finanziellen Aspekten (die Gemeinden wollten Sozialhilfe sparen) gab es auch moralische Aspekte für diese Praxis. Die Behörden waren überzeugt, dass die Kinder in «intakten Pflegefamilien» eine bessere Erziehung erhielten.

Verdingkinder wurden bis in die 1960er-Jahre in Heimen und Familien platziert. Die Praxis wurde aufgegeben, weil sich die öffentliche Moral gewandelt hatte, aber auch weil in den landwirtschaftlichen Betrieben die Nachfrage nach diesen billigen Arbeitskräften zurückging.

Offizielle Statistiken zu den Verdingkindern existieren nicht. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1920 und 1960 rund 100’000 Kinder verdingt wurden.

Die Ausstellung «Enfances volées – Verdingkinder reden» ist vom 26. März bis 27. Juni 2009 im Käfigturm in Bern zu sehen.

Die Wanderausstellung wird in den kommenden vier Jahren an über einem Dutzend Standorten in der Schweiz zu sehen sein, darunter in Basel, Luzern und Freiburg.

An jedem Ort wird die Ausstellung um ein lokales Thema erweitert. Im Tessin beispielsweise dürfte die Geschichte der Kinder, die sich als Kaminfeger verdingen mussten, darunter fallen.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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