Nur eine Schachfigur in einem grossen Spiel
Vor fast 30 Jahren erschütterte die Dioxin-Katastrophe von Seveso die Welt. Die Verantwortlichen schwiegen damals. Nur einer nicht.
Im Dokumentarfilm «Gambit» der Schweizerin Sabine Gisiger kommt mit Jörg Sambeth der technische Leiter der Fabrik zu Wort. Er sieht sich als Bauernopfer.
«Ich bin bestimmt einer der Schuldigen», sagt Jörg Sambeth gegenüber swissinfo. «Aber ich bin nicht allein der Schuldige.» Einige der Schuldigen hätten sich nie zu erkennen gegeben. Nun sei es an der Zeit, «einmal zu sagen, wie es wirklich war».
Der Deutsche Sambeth war damals technischer Direktor der Givaudan in Genf und damit auch verantwortlich für die Fabrik der Icmesa in Seveso bei Mailand, als das Unfassbare geschah. Am 10. Juli 1976 explodiert ein Reaktor, worauf das hochgiftige Gift Dioxin ungeschützt in die Luft gerät.
Hunderte Kinder werden mit Hautverätzungen in Spitäler eingeliefert, 77’000 Tiere verenden oder müssen notgeschlachtet und vergraben werden. Die Bilder des abgesperrten und evakuierten Dorfes, der Männer in Schutzanzügen und Masken sind noch heute vielen Menschen in Erinnerung.
Verschleierungs-Taktik
Erst fünf Tage nach der Gift-Katastrophe treffen sich die Chefs der Muttergesellschaft Hoffmann-La Roche in Basel zu einer ersten Sitzung. Sie beschliessen, den Unfall zu verheimlichen.
Doch in Seveso machen die Kinder mit ihrer verätzten Haut dem Manager Sambeth schwer zu schaffen.
Gleichentags verletzt er den von oben auferlegten Maulkorb und informiert die Ärzte über die Ursache: Dioxin.
Nach der Katastrophe wird Sambeth der vorsätzlichen Unterlassung von Sicherheitsmassnahmen angeklagt.
Dies, obwohl er bereits bei der Übernahme der Fabrik gravierende technische Mängel festgestellt und den Bau einer komplett neuen Fabrik vorgeschlagen hatte.
Diese war von Hoffmann-La Roche in Basel auch gutgeheissen, doch wegen Sparmassnahmen nie gebaut worden. «Ich habe blind eine chemische Anlage und ein chemisches Herstellungsverfahren übernommen, habe nicht nach allen Ursprüngen, allen Gründen und allen Dokumenten geschaut», erklärt Sambeth heute.
Falsche Loyalität
Er habe seinen Vorgängern geglaubt, die für den Aufbau des Reaktors verantwortlich waren. «Ich habe durch diese falsch angewendete Loyalität ganz sicher einen Teil der Schuld mitzutragen.»
Bei den Ermittlungen der Unfallursache stösst Sambeth auf schier Unglaubliches, zum Beispiel ein fehlendes Überlauf-Ventil mit einem Auffang-Tank, das ein Entweichen des Dioxins verunmöglich hätte. Dieses war bei der Planung eingespart worden.
Doch die vom Arbeitgeber angestellten Anwälte waren nicht an diesen Details interessiert. Ihnen ging es darum, die obersten Chefs und damit auch den Ruf der Firmen Hoffmann-La Roche und Givaudan zu schützen. Schliesslich wird Sambeth neben dem Fabrikleiter der Icmesa als einziger verurteilt.
Gambit
In seinem Buch «Zwischenfall in Seveso» rollte der heute 73-jährige Sambeth die Geschichte als fiktiven Roman auf. Das Manuskript landete auch auf dem Tisch der Regisseurin Sabine Gisiger. «Wenn nur die Hälfte von dem wahr ist, dann ist das wahnsinnig interessant», sagte sie sich nach der Lektüre.
Gisiger suchte den Kontakt zu Sambeth. Er erklärte ihr, dass sogar 95 Prozent des Romans der Wahrheit entsprächen. Gisiger recherchierte während fast drei Jahren die Fakten: «Wir alle konnten uns sehr gut vorstellen, dass eine italienische Fabrik eine Schlamperei veranstaltet hat, aber nicht, dass die Basler Chemie gespart hat an einer Anlage, die sie dort installiert hat.»
Der Film «Gambit» (Eröffnung des Schachspiels mit einem Bauernopfer) zeigt die ganze Geschichte vor und nach der Katastrophe aus dem Blickwinkel von Jörg Sambeth, ohne Roche direkt anzuklagen. Trotzdem kommt die Chefetage des Chemieriesen nicht gut weg.
«Ich denke, durch diesen Blick hinter die Kulissen kann das auch prinzipiell anregen, über wichtige Themen nachzudenken. Themen wie Selbstverantwortung, falsche Loyalität.»
Gisiger versuchte zwar, damalige Top-Leute vor die Kamera zu bringen, doch diese winkten allesamt ab. Nach so vielen Jahren würde sich niemand mehr für dieses Thema interessieren, hiess es.
Roche: Kein Kommentar
Roche will den Film gegenüber swissinfo nicht kommentieren. Doch Pressesprecher Baschi Dürr betont: «Dieser Unfall gehört zu unserer Geschichte, da gibt es gar nichts wegzudiskutieren. Roche bedauert das auch heute sehr.»
Heute gehe man mit der Öffentlichkeit anders um: «Roche hat auf jeden Fall daraus gelernt und ist heute gerade im Bereich Sicherheit und Umweltschutz auf einem ganz anderen Level als vor 30 Jahren.»
swissinfo, Christian Raaflaub
Gambit, Dokumentarfilm, 2005, 107 Min., 35mm
Läuft seit dem 6.10. in Kinos der Deutschschweiz
Ab Frühling 2006 in der ganzen Schweiz
Am 3.11.05 ist eine Vorführung in Seveso geplant
Der Schweizer Dok-Film «Gambit» (Bauernopfer) rollt die Geschichte der Dioxin-Katastrophe von Seveso aus der Sicht des als Hauptschuldigen verurteilten Jörg Sambeth auf.
Der investigative Film zeigt die Machtmechanismen in einem Grosskonzern auf und thematisiert die verschiedenen Dimensionen, die eine solche Katastrophe ausmachen.
«Gambit» wurde am diesjährigen intentionalen Filmfestival von Locarno mit dem Preis der «Semaine de la critique» ausgezeichnet.
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