Olivier Pères grosser Wurf fürs Filmfestival
Anlässlich seines Debuts als künstlerischer Direktor des Filmfestivals von Locarno im Jahr 2010 hat Olivier Père das Programm radikal ausgedünnt und dem Festival eine markante Note verliehen. Auch das Programm der diesjährigen Ausgabe tönt vielversprechend.
Das Programm des 64. Filmfestivals von Locarno, das am 3. August beginnt, kann sich sehen lassen. Nicht nur Blockbuster aus Hollywood kehren auf die Grossleinwand auf die Piazza Grande zurück, sondern auch Filmdiven und Kino-Legenden werden Locarno höchstpersönlich ihre Aufwartung machen.
Olivier Père hat eine klare Idee von «seinem» Festival und kehrt in gewisser Weise an die Wurzeln der Veranstaltung zurück: Er will aus dem Festival ein Event von weltweiter Bedeutung machen, den Nachwuchs-Regisseuren eine Chance bieten, aber gleichzeitig Geschichte und Tradition des Kinos wahren.
swissinfo.ch: Wie haben Sie es geschafft, diesen vielversprechenden Jahrgang 2011 auf die Beine zu stellen?
Olivier Père: Am Anfang stehen immer Ideen, Wünsche und Ziele. Bei der Umsetzung stösst man auf Überraschungen, hat Glück oder Pech. Die Auswahl der Filme beginnt sehr früh, sobald wir Informationen haben, welche Filme am Entstehen sind, die für Locarno interessant sein könnten.
Dank der engen Zusammenarbeit mit Produzenten und Regisseuren können wir auf Grund der Filme, die für die Ausstrahlung in Kinos vorgesehen sind, unsere eigene Planung und Terminierung vornehmen.
Dazu kommen die spontanen Entdeckungen, die man bei Reisen rund um die Welt und bei anderen Festivals macht. Jedes Jahr gibt es solche Entdeckungen. Und wir sind froh, solche Filme in Locarno zeigen zu können.
swissinfo.ch: Dieses Jahr ist es Ihnen gelungen, amerikanische Blockbuster auf die Piazza Grande zu holen. Wie konnten Sie das Vertrauen der Amerikaner gewinnen?
O.P.: Dafür muss man reisen und die Verantwortlichen der grössten Filmstudios treffen, Produzenten, Marketing- und Werbechefs. Von Los Angeles bis London. Zudem braucht es eine enge Zusammenarbeit mit den US-amerikanischen Verleihern. Diese Zusammenarbeit hat sich seit meinem Arbeitsbeginn in Locarno intensiviert.
Aber sicherlich hat sich auch das gute mediale Echo auf das Festival 2010 positiv ausgewirkt. Unsere Gesprächspartner waren sehr motiviert, mit uns zusammenzuarbeiten.
Das heisst: Sie wollten nicht nur die Filme bereitstellen, sondern auch Regisseure und Hauptdarsteller nach Locarno bringen, so wie bei «Cowboys & Aliens» von Jon Favreau mit Harrison Ford, Daniel Craig und Olivia Wilde, die alle zur Europapremiere nach Locarno kommen werden.
swissinfo.ch: US-Filme sind nicht gleichbedeutend mit Blockbustern. Wie steht es um das unabhängige Filmschaffen in den USA?
O.P.: Dieses existiert, und die Szene ist sehr lebendig. Das US-Filmschaffen ist dieses Jahr in Locarno stark präsent und zeigt sich in seiner ganzen Vielfalt. Sie haben Recht: Nicht alle US-Filme sind gleichzusetzen mit Unterhaltung und Blockbustern.
Wir haben im internationalen Wettbewerb und in der Sektion «Zeitgenössische Cineasten» junge, unabhängige Regisseure, deren Leistung mich beeindruckt. Locarno wird auch zwei bekannten unabhängigen Filmemachern aus den USA die Ehre erweisen: Dem Produzenten Mike Medavoy und dem Regisseur Abel Ferrara.
swissinfo.ch: Noch ein Wort zum internationalen Wettbewerb, der dieses Jahr sehr französisch daherkommt.
O.P.: Wir haben hart gearbeitet, um einen Wettbewerb auf die Beine zu stellen, der jungen Regisseuren und überraschenden Erstlingswerken ein Forum bietet. Gleichzeitig integrieren wir «sichere Werte» des unabhängigen Filmschaffens, Regisseure wie Shinji Aoyama, Mia Hans-Løve oder Nicolas Klotz. Diese Mischung aus Neuentdeckungen und zeitgenössischem Kino gefällt mir sehr. Das ist ein Reichtum für unsere Veranstaltung.
Es stimmt, dass wir vier französische Filme ausgewählt haben. Dies ist aussergewöhnlich. Aber dieses Jahr war ein ausgesprochen fruchtbares Jahr für das Filmschaffen mit vielen talentierten Regisseuren. Ich hätte gerne alle eingeladen, aber leider müssen wir auch schmerzhafte Entscheide fällen, um ein gewisses Gleichgewicht zu garantieren.
Dazu kommen noch Filme, die ich «UFO» nenne. Es sind exzentrische Filme, ausserhalb der gängigen Schemata, wie beispielsweise der Dokumentarfilm über den rumänischen Zeichentrick-Animationsfilm.
swissinfo.ch: Locarno steht auch für Auszeichnungen und Anerkennungen. Dieses Jahr gib es eine eindrucksvolle Reihe: Claude Goretta, Claudia Cardinale, Bruno Ganz, Isabelle Huppert. Wie kam es zu dieser langen Liste?
O.P.: Wir wollen diesen Persönlichkeiten effektiv eine Hommage erweisen. Da wir die Zahl der Filme reduziert haben, um uns auf weniger Streifen zu konzentrieren, haben sich gewisse Freiräume ergeben, um Personen einzuladen, die Kino machen und gestalten.
Ich bin glücklich, dass Isabelle Huppert die Einladung angenommen hat; ich fühle mich sehr geehrt, dass Abel Ferrara anwesend sein wird. Und was soll ich von Claudia Cardinale sagen, die uns alle hat träumen lassen? Wir wollen mit dem Publikum von Locarno diesen Zauber des Kinos teilen.
swissinfo.ch: Und wie steht es um den Schweizer Film?
O.P.: Das Schweizer Filmschaffen ist in Locarno sehr präsent. Wir wollen für die Schweizer Filme eine optimale Plattform bieten. Es gibt eine neue und vielversprechende Generation an Regisseuren wie Melgar und Baier. Es gibt unerwartete und exzentrische Werke. Ich erwähne in diesem Zusammenhang «Hell», einen Fantasie-Langspielfilm, den wir auf der Piazza Grande zeigen werden.
Das Schweizer Filmschaffen ist viel vielfältiger und lebendiger, als man glaubt. Doch am stärksten sind die Schweizer wahrscheinlich im Dokumentarfilm, der auch dieses Jahr stark vertreten sein wird.
swissinfo.ch: Gehen wir von der Schweiz nach Indien, das im Mittelpunkt der Sektion Open Doors steht, die vom Bund gefördert wird. Warum gerade Indien? Was gibt es dort ausserhalb von Bollywood?
O.P.: Bollywood braucht sicherlich keine Sektion wie Open Doors, um gefördert zu werden, denn dieses Kino ist alleine schon sehr mächtig. Locarno öffnet sich gegenüber den unabhängigen Filmschaffenden, die gerade wegen der Übermacht von Bollywood eher Schwierigkeiten haben, sich durchzusetzen.
Ziel der Sektion Open Doors ist nicht so sehr, bestimmte Filme zu zeigen, sondern die Realisierung von Projekten zu fördern. Wir haben dieses Jahr 12 Projekte ausgesucht.
Dieses Projekt ist sehr konkret, und ich verfolge die Entwicklung ganz genau. Denn nach einem oder zwei Jahren kommen die realisierten Projekte in die diversen Sektionen nach Locarno. Diese Kontinuität zwischen Projekten, Autoren, Produzenten und Festival ist extrem wichtig.
Das 64. Filmfestival Locarno findet vom 3. bis 13. August 2011 statt.
260 Filme (rund 200 Langfilme und 60 Kurzfilme), darunter 40 Weltpremieren.
20 Filme auf der Piazza Grande: Der offizielle Start erfolgt am Mittwoch, 3. August mit «Super 8» von J.J. Abrams, der Abschluss am Samstag, 13. August mit dem in Cannes ausgezeichneten «Et si on vivait tous ensemble?» von Stéphane Robelin.
32 Schweizer Filme: Im Wettbewerb laufen zwei Schweizer Filme und eine Koproduktion Schweiz/Argentinien, 20 laufen im internationalen Wettbewerb, darunter 14 Welturaufführungen und 3 Erstlingswerke.
3 Auszeichnungen für die Karriere: Claudia Cardinale, Claude Goretta und Bruno Ganz.
3 Spezialpreise: Ehrenleopard für Abel Ferrara; Raimondo-Rezzonico-Preis für Mike Medavoy; Excellence Award für Isabelle Huppert.
20 internationale Stars werden in Locarno anwesend sein, vielleicht sogar mehr.
Die diesjährige Retrospektive ist dem US-amerikanischen Regisseur Vincente Minnelli (1903-1986) gewidmet.
Für Olivier Père ist Minnelli «einer der grössten Cineasten der Filmgeschichte».
Seine Filme, aber auch seine musikalischen Komödien, seien von einer beeindruckenden psychologischen Tiefe. Es lohne sich daher, sein Schaffen nochmals Revue passieren zu lassen.
Im Rahmen eines Runden Tisches wird das Werk Minnellis von Experten beleuchtet.
(Übertragung und Bearbeitung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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