Schweizer Seebären singen gegen Sehnsucht an
Die Schweiz ist zwar keine Seefahrer-Nation, doch das Binnenland zählt noch ein paar Matrosen. Einige davon treffen sich allwöchentlich im Schweizer Seemanns-Chor "Störtebekers" in Kleinhünigen.
Es ist Mittwochabend, 20 Uhr: Zeit für die Gesangsprobe des Schweizer Seemanns-Chors «Störtebekers».
Allwöchentlich treffen sich die ehemaligen Matrosen, die auf dem Meer oder auf dem Rhein gefahren sind, im Untergeschoss des Ambulatoriums in Kleinhünigen, einem Basler Quartier und ehemaligen Fischerdorf.
«Heute geht es an Bord, heute segeln wir fort», hallt es durch den Mehrzweckraum mit den grellen Spotlichtern und dem Linoleum-Boden.
Eine enorme Stärke geht von den Stimmen aus. Die älteren Herren, das älteste Mitglied ist 80 Jahre alt, singen mit solcher Leidenschaft, dass sich der kahle, unterirdische Raum bis zur Decke mit Wärme füllt und die Zuhörerin die Meeresbrise auf der Haut zu spüren glaubt. Die «Störtebekers» holen den Duft der weiten Welt singend nach Kleinhünigen.
Konzentriert sitzen sie auf rot gepolsterten Holzstühlen an Konferenztischen, vor sich eine Flasche Feldschlösschen-Bier, Cola oder Mineral und den Sing-Ordner mit den Seemannsliedern und Shanties, den Arbeitsliedern der Schiffsmannschaft aus der Segelschiffzeit in Deutsch, Plattdeutsch und Englisch.
Doch auf die Noten sieht keiner – die Blicke schweifen in die Ferne, fast so als könnten die Männer über die weissen Wände des kleinen Raums hinausblicken. Sprüche geklopft und gelacht wird nur zwischen den Liedern.
Sehnsucht nach dem Meer
Sie scheinen gegen die Sehnsucht nach dem Meer anzusingen. «Ich habe unheimliches Fernweh, doch meine finanziellen Mittel lassen im Moment keine längeren Reisen zu», sagt der 62-jährige Pitt Isler, der Manager der «Störtebekers».
Er könne am Fernsehen keine Reisereportagen anschauen, sonst beginne er gleich zu heulen, sagt der Mann mit dem weissen Walrossschnauz nach einer kurzen Pause und krempelt sein Hemd zurück. Auf seinem Arm ist ein grosses schwarzes Anker-Tattoo zu sehen, in seinem linken Ohrläppchen glänzt ein goldener Anker.
Um das Fernweh zu stillen, organisieren die Störtebekers mit den Einnahmen der Chor-Auftritte deshalb wenn immer möglich kleine Reisen. Letzthin besuchten sie die deutschen Hafenstädte Rostock und Hamburg, bald gehe es nach Lissabon.
Isler, der eine Lehre auf einem Rhein-Schiff gemacht hatte, war von 1963 bis 1972 als Matrose auf See, fuhr nach Westindien, Afrika, in den Fernen Osten, nach Nord- und Südamerika. Damals sei es nicht so einfach gewesen, in die Welt hinauszukommen. Er hatte die Wahl zwischen Fremdenlegion und See.
«Zeiten haben sich geändert»
«Die Zeit auf See war die schönste Zeit meines Lebens», sagt der 73-jährige Markus Tresch, der in den 1960er-Jahren drei Jahre als Maschinist auf See war.
Die Arbeit im bis zu 60 Grad heissen Maschinenraum sei zwar nicht immer einfach gewesen, doch der Zusammenhalt unter den Kollegen, die Ausflüge an Land und die im Hafen auf die Matrosen wartenden Frauen hätten den harten Alltag mehr als wett gemacht.
«Damals gab es noch keine Touristen, die Leute sind fast umgefallen, als sie uns weissen Langnasen sahen», sagt Isler und erzählt von den Exkursionen in China, vom Besuch der verbotenen Stadt und der Chinesischen Mauer. Tresch erinnert sich an die vielen kleinen Häfen, die damals noch angefahren wurden.
Doch die Zeiten hätten sich geändert, so die beiden Seemänner. Damals habe es noch keine Container gegeben, und die Schiffe seien ein bis zwei Wochen im Hafen geblieben. Jeder Sack Kaffee oder Kakao, jede Kiste habe von den Stauern von Hand ein- und ausgeladen werden müssen.
Während Ausflüge an Land früher zum Seemannsleben gehört hätten, bleibe dafür heute keine Zeit mehr, sagt Isler, der mit den jetzigen Container-Schiffen nichts anfangen kann. «Die sehen furchtbar aus», so Isler, der noch mit alten Frachtschiffen unterwegs gewesen war.
Der Druck in der Hochseeeschifffahrt sei enorm gestiegen, sagt Tresch. Die beiden alten Seemänner sind sich einig: Sie würden heute nicht mehr zur See fahren.
Fehlender Nachwuchs
Die Hochseeschifffahrt hat an Anziehungskraft verloren: Während in den 1960er-Jahren noch rund 600 Schweizer auf Hochseeschiffen tätig waren, sind es heute nur noch rund ein halbes Dutzend.
Die anderen kommen aus dem Ausland, viele aus den Philippinen. «Der Grund dafür ist das Finanzielle», sagt Isler. «Die Philippinos arbeiten für die Hälfte eines für einen Schweizer noch akzeptablen Lohnes.»
Der Schweizer Seemannschor kämpft denn auch mit Nachwuchsproblemen. Die Fahrenszeit, die bis vor einigen Jahren für einen Eintritt in den Chor obligatorisch war, wurde vor ein paar Jahren aufgehoben.
Die Probe ist zu einem Fixpunkt im Leben der alten Seebären geworden. Hier werden Fachzeitschriften und Infos und vor allem Erinnerungen ausgetauscht.
«Ohne die wöchentliche Probe würde eine Lücke entstehen», sagt Tresch. Bei den «Störtebekers» könne man reden, wie einem der Schnabel gewachsen sei, so Isler. «Wir sind ein eigenes Völkchen, das Meer und die Weite haben uns geprägt.»
swissinfo, Corinne Buchser, Basel
Der Seemanns-Chor «Störtebekers» wurde 1962 zusammen mit dem «Seemannsclub der Schweiz» gegründet.
Der Chor zählt momentan mit den beiden Handorgel-Spielerinnen 20 Mitglieder. Die meisten davon waren mehrere Jahre auf Hochsee- oder Rheinschiffen unterwegs.
Der Name des Chors geht auf die Legende des gefürchteten Seeräubers Störtebeker zurück, was auf Plattdeutsch so viel wie «Stürz den Becher» («stört de Beker») heisst. Störtebeker wurde 1401 geköpft.
Insgesamt sind auf den Meeren 35 Schiffe unter Schweizer Flagge unterwegs.
Die schweizerische Hochseeflotte wurde im Zweiten Weltkrieg geschaffen, um im Krieg die Versorgung des Landes sicherzustellen.
Heute sollen die Schiffe unter Schweizer Flagge in Krisensituationen nicht nur den Import, sondern auch den Export gewährleisten.
Die Reedereien müssen bei Bedarf ihre Schiffe unter Schweizer Flagge dem Bund zur Verfügung stellen. Im Gegenzug leistet der Bund den Reedereien beim Kauf von Schiffen Bürgschaften.
Basel ist der Heimathafen der unter Schweizer Flagge fahrenden Hochseeschiffe.
Was die umstrittene Entsendung von Schweizer Soldaten an die Küste vor Somalia anbelangt, so trauen sowohl Pitt Isler als auch Markus Tresch der Armee-Spezialeinheit einen eventuellen Einsatz an Bord der unter Schweizer Flagge fahrenden Schiffe zu.
«Sie müssten am Anfang sicher mal einen Tag lang kotzen, doch dann wäre es vorbei», so Isler lakonisch. Gemäss Tresch könnte neben der Seekrankheit auch die mangelnde Marine-Erfahrung ein Problem werden, wie die spezielle Kommandosprache an Bord.
Ein Angriff von Piraten wäre gemäss Isler vor allem für die unbewaffente Mannschaft ein Problem. Doch er glaubt, dass die Präsenz von Soldaten die Piraten abschrecken würde.
Die beiden ehemaligen Seemänner wurden nie von Piraten verfolgt. Doch in Afrika und Haiti habe es immer wieder Einheimische gegeben, die über die Anker-Kette an Bord zu gelangen versuchten. «Wir haben ihnen einfach mit einer Eisenstange auf die Finger gehauen, wenn sie über die Reeling klettern wollten», so Isler.
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