Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Schweizer Sprachenrezept keine Lösung für Belgien

Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz. Mit dem Aufkleber "DG" wird die Zugehörigkeit zur Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien manifestiert. Keystone

Eine internationale Jury mit Schweizer Beteiligung hat die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens zur "Europäischen Region des Jahres 2004" erkoren.

1998 und 2002 hatten Europaratsberichte von Schweizer Parlamentariern zum Sprachenstreit in Belgien Turbulenzen ausgelöst.

Die Jury lobte die Region als Vorbild für ganz Europa. In keiner anderen Region auf dem Kontinent könne eine sprachliche Minderheit ihr soziales und kulturelles Erbe so gut wahren.

Die Jury der «Vereinigung europäische Region des Jahres», die ihren Sitz in Barcelona hat, setzte sich aus Politikern aus der Europäischen Union (EU), Russland und der Schweiz zusammen. Sie traf ihre Auswahl aus Regionen von 45 Ländern.

Rund 70’000 Einwohner mit deutscher Muttersprache leben in der belgischen Grenzregion zu Deutschland. Sie bilden eine kleine Minderheit im dreisprachigen Belgien, das insgesamt 10 Millionen Einwohner zählt.

Interessanter Schweizer Föderalismus

Die deutschsprachige Gemeinschaft ist in Belgien als nationale Minderheit anerkannt. Ihr Ministerpräsident, Karl-Heinz Lambertz, besuchte Mitte Oktober mit einer Delegation die Schweiz. Begleitet von Vertretern des Justiz- und Polizeidepartementes (EJPD) sahen sich die Gäste aus Belgien die beiden Kantone Jura und Schaffhausen an.

«Im Jura ist die Geschichte des Entstehens des jüngsten Schweizer Kantons sehr spannend», so Ministerpräsident Lambertz gegenüber swissinfo. «Und das Funktionieren des Kantons Schaffhausen als Grenzkanton ist für uns natürlich besonders interessant. Wir grenzen ja auch an Deutschland an.»

Referendum für Belgien ein Tabu

Beeindruckt zeigt sich Lambertz von den Instrumenten der direkten Demokratie in der Schweiz. Die Einführung des Referendums sei in Belgien undenkbar. «Das wird von allen Seiten abgelehnt, das ist ein Tabu.»

Das habe man zum Beispiel 1998 gesehen, als der damalige Schweizer Nationalrat und Europarat-Abgeordnete Dumeni Columberg in einem Bericht im Auftrag des Europarates die Situation der französischsprachigen Bevölkerung in den flämischen Vorortsgemeinden der belgischen Hauptstadt Brüssel untersuchte.

Die Anregung Columbergs, zur Entspannung des flämisch-wallonischen Sprachen- und Minderheitenstreits das Volk mittels eines Referendums bei der Suche nach einer Lösung miteinzubeziehen, löste in Belgien einen Sturm der Entrüstung aus. Belgische Politiker von allen Seiten und auch die Medien monierten, eine Volksbefragung spiele den Extremisten in die Hände, führe zu einer Diktatur der Mehrheit und schaffe deshalb mehr Probleme als sie löse.

Flandern bedauert die Rätoromanen

Besonders auf flämischer Seite war man über den Bericht des Schweizer Europarat-Abgeordneten erzürnt, weil darin von flämischer Diskriminierung der wallonischen Minderheitsrechte die Rede war.

Das Kampfblatt der flämischen Nationalisten «De Standaart» rächte sich am «Ei des Columberg» – mit einem «Gegen-Bericht» über den Umgang mit der Sprachenvielfalt in der Schweiz. Fazit der Recherche: Im Vergleich zu Belgien behandle die Schweiz ihre Sprachminderheiten noch viel ungerechter. Das Blatt entdeckte sogar «arme Rätoromanen».

Weitere Turbulenzen

Nicht besser sollte es dem vier Jahre später von der Schweizer Nationalrätin und Europarat-Abgeordneten Lili Nabholz verfassten Bericht zum Sprachenzwist in Belgien gehen. Der von der parlamentarischen Versammlung des Europarates verabschiedete Bericht löste Konsternation aus.

In dem Bericht wurden neben den deutschsprachigen Belgiern jetzt auch die französisch Sprechenden in Flandern sowie die flämisch Sprechenden in Wallonien als offizielle Minderheiten definiert. Nicht nur die flämische Volksseele kochte; nun war ganz Belgien verärgert, weil das Land in der Kritik des Europarats in seinem Selbstverständnis getroffen wurde, ähnlich wie die Schweiz ein Modell zur Befriedung von Minderheiten-Konflikten entwickelt zu haben.

«Ich habe so etwas noch nie erlebt», sagt Lili Nabholz heute gegenüber swissinfo rückblickend auf die Turbulenzen, die sie mit ihrem Bericht im vorigen Jahr ausgelöst hatte. «Ich war in Belgien als Politikerin bekannter als in der Schweiz», lacht sie.

Der Konflikt bleibt

«Heute hat sich der Sturm gelegt, der Nabholz-Bericht war ein Strohfeuer», sagt der Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft. Doch eine Ratifizierung der 2001 unterzeichneten Europarats-Konvention zum Schutz nationaler Minderheiten komme für Brüssel immer noch nicht in Frage, so Karl-Heinz Lambertz zu swissinfo.

Das sei erst dann möglich, wenn der flämisch-wallonische Konflikt gelöst sei. «Und dazu müssen die Flamen die frankophone Minderheit in ihren Gebieten als nationale Minderheit anerkennen.» Aber die Flamen befürchteten, dass sich durch die Anerkennung der Frankophonen in Flandern die französische Sprache auf flämischem Gebiet weiter ausbreiten würde.

Dies bestätigt Lili Nabholz. «Bei meinem Besuch in Belgien spürte ich die reellen Ängste der Flamen vor einer ‹Französisierung› ihrer Regionen, besonders in den Aussenbezirken Brüssels.» Das habe etwas Absurdes an sich, denn heute seien die Flamen in Belgien in der Mehrheit und auch wirtschaftlich stark, während die früher dominierenden Wallonen heute in einer schwächeren Position seien.

In dieser verzwickten Situation könne auch das Föderalismus-Modell Schweiz nicht helfen, sagt Nabholz . Das belgische System sei zu «ausgeklügelt», als dass man es mit der Schweiz vergleichen könne. «Belgiens Bemühungen zum sprachlich-nationalen Ausgleich sind so kompliziert, dass sie kontraproduktiv werden können.»

Lachender Dritter

Im ewig dauernden Konflikt zwischen Flamen und Wallonen gibt es einen lachenden Dritten: die deutschsprachige Gemeinschaft. In dem Streit verhalte sie sich neutral, sagt Lambertz.

«Das hat uns auch schon den Vorwurf eingebracht, wir pickten lediglich die Rosinen von beiden Seiten. Aber wir müssen jeweils auch hart um unsere Vorteile kämpfen», so der Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft.

A propos «Rosinenpicken» erklärt Lili Nabholz: «Die deutschsprachige Gemeinschaft hat profitiert von der Konfliktsituation zwischen Flamen und Wallonen und hat sich das Beste herausgenommen. Deshalb überrascht mich die Auszeichnung ‹Europäische Region des Jahres 2004› nicht.»

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

Belgien: 10 Mio. Einwohner
58% wohnen in Flandern, 32% in Wallonien, 10% in der zweisprachigen Hauptstadt Brüssel
Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens: 70’000 Einwohner

Der heutige Staat Belgien existiert seit 1830. Damals trennte sich der Grossteil der katholischen Provinzen vom nach 1815 entstandenen Königreich der Niederlande. Die politische Macht wurde damit zu den damals auch wirtschaftlich tonangebenden französischsprachigen Wallonen verschoben. Flämisch blieb während Jahrzehnten die Sprache des einfachen Volkes.

Die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Rückbesinnung im flämischen Landesteil auf die eigene Tradition und Kultur mündete in eine formale Gleichberechtigung der beiden Sprachgruppen. Auch der wirtschaftliche Aufschwung nach dem 2. Weltkrieg verlagerte sich ins flämische Gebiet.

Die aus der Geschichte entstanden Streitereien zwischen Flamen und Wallonen führten schliesslich zur Aufteilung des Landes in Sprachregionen mit weitgehender Autonomie. Aber die historisch bedingten Empfindlichkeiten sind auf beiden Seiten immer noch stark, insbesondere in der Grossagglomeration der zweisprachigen Hauptstadt Brüssel.

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