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«Sister» oder Überleben in der Schweizer Bergidylle

Überlebenskampf: Simon und Louise suchen Käufer für geklaute Skiausrüstung. diaphana.fr / Roger Arpajou

Es war der grösste Erfolg für den Schweizer Film der letzten Jahre: An den Filmfestspielen von Berlin gewann "Sister" den Silbernen Bären. Im Gespräch sagt Regisseurin Ursula Meier, weshalb sie von der Bergwelt keine Postkarten-Idylle zeichnet.

«L’Enfant d’en haut», wie der Originaltitel lautet, kommt am 4. April in die Kinos in der Westschweiz, am 26. April kommt der Film in die Deutschschweiz. In ihrem zweiten Langspielfilm erzählt die in Besançon geborene und Genf aufgewachsene Regisseurin und Schauspielerin Ursula Meier die Geschichte des 12-jährigen Simon.

Der Junge, hervorragend gespielt von Kacey Mottet Klein, lebt mit seiner arbeitslosen älteren Schwester Louise (Léa Seydoux) unten im tristen Tal, umgeben von tristen Menschen. Die beiden sind sich selbst überlassen.

Nach oben, wo sich im Winter die Schönen und Reichen auf den Skipisten tummeln, geht er nur, um diesen ihre Skis zu klauen. Wieder unten, verkauft Simon die Beute, um sich und Louise zu ernähren.

Der Hauptdarsteller Kacey Mottet Klein hatte schon 2008 in Meiers mehrfach ausgezeichnetem Film «Home» überzeugt. 2009 gewann die Regisseurin mit ihrem Erstling den Schweizer Filmpreis in der Kategorie Bester Spielfilm und Bestes Drehbuch.

«Home» schaffte es auch auf die Liste für den Europäischen Filmpreis 2008 und wurde 2009 auch für drei Césars vorgeschlagen. Dazu kam die Nomination als Schweizer Beitrag für den Oscar 2010 in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film.

Nach dem Erfolg in Berlin von Ende Februar ist fast vorgezeichnet, dass es Meier diesmal mit «Sister» nicht nur Nominierungen, sondern tatsächlich auch Preise einheimsen kann.

swissinfo.ch: Die Oscar-Nominierung von Markus Imhoofs «Das Boot ist voll» von 1981 war der letzte ganz grosse Auftritt eines Schweizer Films im internationalen Scheinwerferlicht. Kann Ihr Silberner Bär dem heimischen Kino einen Schub verleihen?

Ursula Meier: Die Auszeichnung lässt sicher das Interesse der grossen Wettbewerbe an Schweizer Filmen steigen. Dieses war bisher hauptsächlich auf die jungen Schweizer Regisseure beschränkt. Was mich betrifft: Meine Karriere wurde 2008 mit der Vorführung von ‹Home› am Festival in Cannes so richtig lanciert.

Ich kann nicht sagen, ob meine Kolleginnen und Kollegen von der Berliner Auszeichnung profitieren können. Sicher aber wird gegenwärtig das Werk von jungen Schweizer Filmschaffenden wie Lionel Baier, Frédéric Mermoud oder Stéphane Bron im Ausland hoch geschätzt.

Sie wurden ebenso wie ich zum 12. IndieLisboa-Festivals des unabhängigen Films eingeladen, das im April in Lissabon stattfindet. Unter dem Titel ‹A Band Apart› wird dort ein ganzer Programmteil dem jungen Schweizer Filmschaffen gewidmet sein.

swissinfo.ch: ‹A Band Apart› erinnert an die legendäre Groupe 5, zu der in den 1960er-Jahren Claude Goretta, Alain Tanner und Michel Soutter gehört hatten. Wie stehen Sie zu diesen grossen Namen der Schweizer Filmgeschichte? 

U.M.: Vor einigen Jahren gab es eine Abkehr von diesen Wurzeln, die Väter mussten umgebracht werden. Ich war immer voller Bewunderung für die erwähnten Regisseure, wie auch für Jean-Luc Godard und Daniel Schmid. Ich bin nicht der Meinung, dass man den Einfluss von Goretta oder Tanner ablehnen muss, um sich von ihnen abzuheben.  

Es ist nicht prahlerisch gemeint, wenn ich sage, dass ich ‹Sister› zwischen Alain Tanners  ‹La Salamandre›  und Fredi Murers Meisterwerk ‹Höhenfeuer› sehe. In beiden Filmen geht es um Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, sich selbst überlassen.

swissinfo.ch: In Berlin haben Sie «Sister» als politischen Film bezeichnet. Weshalb?

U.M.: Mein Film inszeniert eine Kulisse, nicht in einem ästhetischen, sondern im einem topographischen Sinn. Es wird eine Schweiz gezeigt,  die zwischen trister Industriezone im Tal oszilliert, wo Simon mit seiner Schwester ein ärmliches Dasein führt, und dem Skigebiet in den Bergen, wo der Reichtum allgegenwärtig ist.

Die Postkarten-Schweiz interessiert mich nicht. Die Schönheit des Landes besteht für mich gerade auch in seinen Gegensätzen von unten und oben. Durch den Wechsel vom einen zum anderen erhält der Film seinen politischen Anstrich.

Diesen Anstrich halte ich für viel stärker als das Bild des heilen Alplebens, das die ‹Heimatfilme›, wie ich sie bezeichne, preisen. Sie sind gegenwärtig in der Deutschschweiz in Mode, wie man im Januar an den Solothurner Filmtagen hat sehen können. Dort war der Landschaftsfilm stark vertreten.

swissinfo.ch: «Home» könnte als Metapher für eine Schweiz gesehen werden, die in Europa isoliert dasteht. «Sister» spielt in einer Landschaft, die zu den schönsten der Welt gehört, aber zahlreiche Szenen sind in Toiletten gedreht, von wo sich ein gewisser Gestank ausbreitet. Sind Sie davon besessen, das Bild einer idyllischen Schweiz zu zerstören? 

U.M.: Keineswegs. Ich würde vielmehr sagen, dass ich ein komisches Verhältnis zur Schweiz habe. Ich bin in Ferney-Voltaire an der Grenze zur Schweiz aufgewachsen. Genf war immer ‹meine› Stadt gewesen, ohne es je wirklich zu sein.

Mein Vater ist Deutschschweizer. Ich habe mich lange vom Schweizer Film gewissermassen ernährt. Heute lebe ich in Brüssel, vielleicht als Flucht. Ich kehre sehr oft in die Schweiz zurück, aber ich brauche eine gewisse Distanz, damit ich meine Filme machen kann.

Es ist vielleicht diese Distanz, die mich die Schweiz anders sehen lässt als eine Reihe von Berggipfeln, welche die Menschen Gott näher bringen. Ich zeige die Berge als etwas wilde Tourismusorte mit zahlreichen Fremden. Dadurch ändert sich unser Verständnis von Sprache und der Welt. In ‹Sister› erzähle ich auch von diesen Beziehungen.

swissinfo.ch: Was ist Ihr nächstes Projekt?

U.M.: Ich habe Ideen, aber die behalte ich für mich. Während sie wachsen und sich entwickeln, geniesse ich das Leben und die Momente des Glücks, die für mich eine grosse Belohnung sind.

Französisch-Schweizerische Ko-Produktion.

Hauptrollen: Léa Seydoux und Kacey Mottet Klein.

Kino-Start ist am 4. April in der Romandie und am 26. April in der Deutschschweiz.

Mit dem Sozialdrama «Sister» (Originaltitel «L’Enfant d’en haut») gewann Ursula Meier im Februar an den Internationalen Filmfestspielen von Berlin den Silbernen Bären sowie eine Sonderauszeichnung.

  

Dazu wählte die Publikumsjury einer grossen Berliner Zeitung «Sister» zu den drei besten des Festivals.

Ursula Meier: Geboren 1971 in Besançon, Mutter Französin, Vater Deutschschweizer.

Aufgewachsen im schweizerisch-französischen Grenzgebiet bei Genf; Schulen in Ferney-Voltaire (auf der Seite Frankreichs)

Studium am Institut für Medienkünste (IAD) in Brüssel, wo sie heute lebt.

Nach mehreren Kurzfilmen erster Fernsehfilm «Des épaules solides» («Breite Schultern») für Arte.

«Home», ihr erster Langspielfilm von 2008, schaffte es gleich ans Filmfestival Cannes.

Er wurde für mehrere Preise nominiert, u.a. für den Oscar des besten ausländischen Films, und erhielt mehrere internationale Auszeichnungen.

Kritiker sehen in ihren Werken Einflüsse von Ken Loach und den Brüdern Dardenne.

Meier selbst betont die Prägung durch international stark beachtete Schweizer Regisseure wie etwa Alain Tanner, Claude Goretta oder Fredi M. Murer.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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